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Pilgern durch die Coronakrise - 30. Mai 2020

Liebe Pilgernde in der Offenheit für den Heiligen Geist,
 
immer klarer wird in der virologischen Forschung der letzten Tage, dass es „Superspreading-Events“ gibt, Veranstaltungen, die besonders geeignet sind, das Virus auszubreiten. Bei solchen Events steckt eine einzige infizierte Person oft Dutzende andere an. Die Ansteckungsrate ist gigantisch. Dazu gehören engste Wohnverhältnisse (Fleischindustrie, Asylbewerberheime, aber auch die Lager in Berghütten), Sportveranstaltungen im vollen Stadion (Bergamo – der Anfang der Krise), Bars und Tanzlokale (Ischgl), große Familienfeiern (Göttingen), Gottesdienste (Frankfurt, Bremerhaven) und Chorfreizeiten (Perg – der Anfang in Oberösterreich). Mindestens die letzten drei Kategorien betreffen auch die Kirchen – und werden unser religiöses Leben vermutlich noch längere Zeit erheblich einschränken – so schmerzlich das ist. Wenn ich mich mit diesem Rundmail also verabschiede, dann ist der Ausgang der Corona-Zeit gleichwohl völlig offen.
 
Ich schreibe am Vorabend von Pfingsten. Wo immer auf der Welt sich eine Sprache als die Weltsprache durchzusetzen versucht, sind wir auf dem Weg in die (Sprach-) Diktatur. Das haben die Israeliten begriffen, als der assyrische König Sargon II. (721 bis 705 v. Chr.) die Menschen aller eroberten Völker zwang, assyrisch zu sprechen. Die heutige Lesung vom Turmbau zu Babel (Gen 11) spiegelt das wider. Gott will nicht, dass die Menschen eine Sprache sprechen müssen. Jede Kultur soll frei sein, ihre eigene Sprache zu behalten und zu pflegen. Sie soll dies aber in Respekt vor Menschen anderer Sprachen tun. Sprachenvielfalt bedeutet Freiheit, braucht aber die Bereitschaft aller, sich aufeinander einzulassen und sich zu bemühen, den anderen trotz der anderen Sprache zu verstehen.
 
Genau das ist das Wunder von Pfingsten (Apg 2,1-11): Menschen aus unterschiedlichsten Völkern und Sprachen sind in Jerusalem versammelt. Aber der Geist Gottes sorgt nicht dafür, dass alle das Hebräisch oder Aramäisch der Apostel verstehen. Er will keine Einheitssprache, sondern liebt die Vielfalt. Daher ist es umgekehrt: Jede und jeder hört die Apostel in seiner oder ihrer Sprache reden. Die Sprachenvielfalt bleibt, aber sie wird mit einem Mal als etwas Großartiges, Belebendes, Faszinierendes wahrgenommen – weil alle sich in Liebe bemühen, die Sprachen der anderen soweit zu verstehen, dass man miteinander auskommen kann.
 
In den letzten Wochen hat das Stimmengewirr in Österreich und Deutschland erheblich zugenommen. Wo sich während der ersten Corona-Wochen fast alle hinter den Maßnahmen der Regierungen versammelten, kommt nun vielfältiger Widerspruch. Der ist per se nicht schlecht, im Gegenteil: Wir brauchen viele Stimmen und Perspektiven, weil es nicht das eine Patentrezept zur Bewältigung der Krise gibt. Wir brauchen aber auch das Bemühen aller, die Anliegen und Erfahrungen der anderen zu verstehen und ernsthaft zu bedenken. Es gilt, nach dem Richtigen in anderen Meinungen zu suchen und nicht nach dem Falschen. Das aber kann nur gelingen, wenn wir unsere Meinungen in einer Atmosphäre des Respekts voreinander und des Hörens aufeinander vortragen. Aggressivität, Rechthaberei, das Versehen anderer Meinungen mit Etiketten und das Verschließen dieser in Schubladen ist nicht hilfreich. Ich sage ehrlich: Mich (und wie ich weiß, viele von euch/ Ihnen) erschreckt es, wie aggressiv und verbissen jetzt manche Menschen ihre Meinung kundtun. Das heizt die Konfrontation an und dient nur extremistischen und radikalen, gewaltbereiten Positionen. 
 
Pfingsten ist das Fest des Hinausgehens aus den engen Wänden der eigenen Position, das Sich-hinstellen auf den Marktplatz und Sich-aussetzen gegenüber Andersdenkenden. Und dabei gilt es für alle, neue Ideen auszuprobieren, neue Wege zu gehen und nicht in den alten Trott früherer Zeiten zurückzufallen! Jeder und jede muss sich bewegen – sonst haben wir die Chance der Krise verpasst! Der Heilige Geist ist unser Motor, unser Beweger. Aber er kann nur wirken, wenn wir uns ihm öffnen.
 
In 25 Rundmails und vier Predigten habe ich seit Beginn des Shutdowns Anregungen für diese Bewegung gegeben. Mit dem heutigen Tag endet nicht nur die Osterzeit, sondern auch meine Rundmails. Zumindest vorläufig. Bei einer zweiten Welle von Infektionen, die hoffentlich ausbleibt, aber mit der doch auch zu rechnen ist, melde ich mich selbstverständlich wieder. Am Ende dieses intensiven gemeinsamen Weges lade ich daher ein, Rückschau zu halten und Zwischenbilanz zu ziehen. In drei große Phasen habe ich diese Zeit geteilt: Zunächst der Exerzitienweg von Beginn der Krise bis in die Osterwoche – dann eine Phase grundsätzlicher Überlegungen zur politischen Entwicklung während und nach der Krise – und schließlich eine Phase der Präsentation historischer Erkenntnisse aus den Pandemien und Klimakatastrophen der Spätantike. Wer mag, kann sich in einer ruhigen Stunde fragen:
-              Was war für mich besonders erhellend, hat für einen Aha-Effekt gesorgt?
-              Was hat mich besonders zum eigenen Nachdenken angeregt?
-              Was habe ich vermisst?
-              Wo hat sich in mir Widerspruch geregt?
-              Was waren für mich die wertvollsten Erfahrungen dieser Wochen?
-              Was nehme ich aus der Corona-Krise mit in die nächsten Monate oder Jahre?
Ich freue mich auf eure/ Ihre Rückmeldungen zu diesen Fragen (sofern nicht schon geschehen)!
 
Eines der kostbarsten Vermächtnisse meines Vaters hat er mir an seinem 80. Geburtstag in einem Vier-Augen-Gespräch geschenkt. Wir gingen zu Fuß zu dem Hotel, in das er eine große Festgesellschaft eingeladen hatte, und ich fragte ihn, wie er denn rückblickend sein bisheriges Leben wahrnehme. In für ihn ungewohnter Offenheit erzählte er mir von seiner großen Dankbarkeit für alles. Und „für alles“ hieß für ihn ganz besonders: Dankbarkeit auch für die Erfahrungen in fünf Jahren russischer Gefangenschaft. Als er in Gefangenschaft ging, war er fast 22, als er zurückkehrte, fast 27 Jahre alt. Jahre, in denen man eigentlich andere Pläne hat als fernab von Familie und Freunden in einer Fabrik tagtäglich bis zum Umfallen zu arbeiten, karge Nahrung zu bekommen und im Winter monatelang Temperaturen zu erdulden, die wir in Deutschland nie erleben. Wie konnte er dafür dankbar sein? Seine Antwort war so klar wie einleuchtend: Ich habe dort so viel fürs Leben gelernt. Ich möchte diese Zeit nicht missen!
 
Den Tag seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft hat mein Vater Zeit seines Lebens wie einen zweiten Geburtstag gefeiert. Es war für uns Kinder ein ehrfurchtsgebietender, heiliger Tag. Aber die Aussage, dass er für die Erfahrungen der Gefangenschaft dankbar ist und sie nicht missen möchte, hat er in dieser Klarheit und Direktheit erst an seinem 80. Geburtstag gemacht. Sie musste lange reifen und wäre mit 30 oder 40 Jahren noch gar nicht glaubwürdig gewesen. – Vielleicht geht es uns mit der Corona-Krise einmal genauso: Dass wir in einigen Jahrzehnten, so sie uns gegönnt sind, unseren Kindern und Enkeln sagen können: Ich schaue dankbar auf diese Zeit zurück, denn ich habe viel gelernt. Die Zeit hat für mich ihren Sinn gehabt. Das jedenfalls wünsche ich euch/ Ihnen.
 
Mit diesen Gedanken verabschiede ich mich. Ich danke für das treue und aufmerksame Lesen meiner Mails durch zweieinhalb Monate. Ich danke für alle Rückmeldungen, von denen mich viele sehr bewegt und selber weitergetragen haben. Bleiben wir in Verbindung – wie auch immer sich diese konkret gestaltet!
 
Ich schließe mit einem alten irischen Segenswunsch: 
 
Der Herr segne Dich. 
Er erfülle Deine Füße mit Tanz und Deine Arme mit Kraft. 
Er erfülle Dein Herz mit Zärtlichkeit und Deine Augen mit Lachen. 
Er erfülle Deine Ohren mit Musik und Deine Nase mit Wohlgerüchen. 
Er erfülle Deinen Mund mit Jubel und Dein Herz mit Freude. 
Er schenke Dir immer neu die Gnade der Wüste: 
Stille, frisches Wasser und neue Hoffnung. 
Er gebe uns allen immer neu die Kraft, der Hoffnung ein Gesicht zu geben. 
Es segne Dich der Herr.
 
In diesem Sinne Gott befohlen,
 
Michael Rosenberger