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Eine Antwort von Professor Dr. Michael Rosenberger

Ist Wallfahrt nur ein spirituelles Geschehen oder hat sie auch eine soziale Dimension?

Viele Menschen verbinden mit Spiritualität einen Rückzug ins stille Kämmerlein oder bestenfalls in den geschützten Raum der Kirche. Das Getriebe des Alltags, seine Sorgen und Nöte, seine Ablenkungen und Verlockungen sollen verschwinden. Dieser Eindruck mag sich der traditionellen christlichen Praxis verdanken, er mag aber auch aus der Wahrnehmung der fernöstlichen Meditationspraxis entspringen. Spiritualität – so die Vorstellung – ist Rückzug aus der Welt.

Auf der einen Seite ist das absolut richtig. Wer betet oder meditiert, wer Gottesdienst feiert oder auf Wallfahrt geht, nimmt sich aus dem üblichen Lauf des alltäglichen Lebens heraus und begibt sich in bewusste Distanz dazu. Eine Distanz, die befreit. Eine Distanz aber auch, die den Alltag klarer sehen lässt. Eine Distanz schließlich, die eine neue Begegnung mit dem Alltag ermöglicht. Und das genau ist der Sinn von Spiritualität: Gläubiger Umgang mit der Wirklichkeit (Georg Mühlenbrock).

Spiritualität ist also – recht verstanden – keine Weltflucht, sondern Distanzierung, um Weltbegegnung und Weltgestaltung zu ermöglichen und zu fördern. Es gilt, die Spuren Gottes in dieser Welt und im ganz persönlichen Alltag zu suchen und zu finden. Es gilt, die Möglichkeiten und Verheißungen Gottes im eigenen Leben und in dem der anderen zu entdecken und zu ergreifen. Spiritualität will alle Sinne für die Welt und Gott in der Welt öffnen.
Damit ist schon klar: Das „oder“ in der gestellten Frage erübrigt sich und wird zum „und“: Wallfahrt hat als spirituelles Geschehen eine wichtige soziale Dimension. Und die lässt sich auf vielfache Weise spüren.

  • Da bitten die Daheimbleibenden die Pilgerinnen und Pilger, für sie zu beten, ihre Anliegen mitzunehmen zum Gnadenort. Und diese tun das oft mit großer Aufmerksamkeit und Liebe. Umgekehrt beten auch die Daheimbleibenden für jene, die sich auf den großen Weg gemacht haben, erbitten ihnen Kraft und Ausdauer, wohlbehalten ans Ziel zu kommen.
  • Da werden die Pilgerinnen und Pilger unterwegs fürsorglich verköstigt und beherbergt – oftmals sogar „um Gottes Lohn“ in Familien oder Pfarrheimen. Ihrerseits versprechen sie ihren Wohltäterinnen und Wohltätern ein Gebetsgedenken, das häufig sehr persönliche Anliegen beinhaltet.
  • Da kümmern sich die Pilgerinnen und Pilger um die Blasen und Verletzungen, die Schmerzen und Lasten der Mitgehenden und werden einander wechselseitig zur Stütze und Hilfe. Wenn jemand verzagt ist, wird er aufgemuntert, wenn er müde und schwach wird, wartet jemand auf ihn, wenn er seine Ängste und Sorgen aussprechen möchte, findet sich immer ein offenes Ohr – nicht nur beim Priester.
  • Manchmal mag eine Wallfahrt auch konkrete soziale oder politische Anliegen ganz offiziell mitnehmen. So stehen viele Wallfahrten in Lateinamerika seit Jahrzehnten im Zeichen der geforderten Landreform, die den landlosen Armen ein Stückchen Land vom Territorium der Großgrundbesitzer zuteilt. Und in Europa gibt es da und dort Wallfahrten in bedrohte Naturräume, um deren Schutz gebetet wird. Wallfahrten können so zu Demonstrationen im besten Sinn werden: Zu Glaubenszeugnissen, die mehr als nur fromme Lippenbekenntnisse sind, sondern ganz konkrete Taten fordern. Das berühmte Motto der Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ wird in der Bibel als Konsequenz einer großen Wallfahrt erzählt (Jes 2; Mi 4). Wallfahren ist hoch politisch!

Auf einer Wallfahrt sind die Menschen sehr aufeinander angewiesen. Räumlich, aber auch spirituell rücken sie eng zusammen, wenn sie nur offen dafür sind. Sie üben sich ein in eine intensivere Sensibilität füreinander und in die Bereitschaft, füreinander da zu sein. Denn genau so will Gott unter den Menschen mitgehen.