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Pilgern durch die Coronakrise - 10. Februar 2021

Liebe Pilgernden mit der Geduld von Dickhäutern (oder auch nicht),
 
auch die meisten Deutschen werden von dem Streit zwischen dem Land Tirol und der österreichischen Bundesregierung gehört haben. Knapp 300 Infektionen mit der südafrikanischen Variante des Virus sind in Tirol nachgewiesen, im Rest Österreichs ganze 9. Und schon entbrennt in Tirol ein Freiheitskampf, an dem Andreas Hofer seine Freude gehabt hätte, der aber ins 21. Jahrhundert wahrlich nicht passt. Mit welcher Schärfe da Regionalpolitiker und Kammerpräsidenten (es waren allesamt Männer) auf einmal sprechen – das habe ich in all meinen österreichischen Jahren so noch nicht erlebt. Man merkt, wie tief die Aggression gegen alle Nicht-TirolerInnen letztlich sitzt und wie schnell der Stolz verletzt ist.
 
Dabei verdecken die TirolerInnen vor allem ihre eigene Uneinigkeit, was den Tourismus angeht. Das Land ist diesbezüglich tief gespalten, und das geht mitten durch die Dörfer und Familien. Die einen wollen immer mehr immer größeren Tourismus anbieten, den anderen ist es jetzt schon viel zu viel und sie sehen, was dabei alles kaputtgeht. In der Öffentlichkeit dominiert aber die Fraktion, die für den Massentourismus spricht. Deswegen wurde in Ischgl letztes Jahr tagelang gewartet, bis man die Apre-Ski-Bars schloss, und deswegen konnten auch jetzt Touristen das südafrikanische Virus ungehindert mitbringen. Und nun muss die Bundesregierung um den heißen Brei herumreden und gute Miene zum bösen Spiel machen. Der gestern nach langem Hin und Her vereinbarte Kompromiss lautet: Nach Tirol darf jedeR ungehindert einreisen, aber aus Tirol heraus braucht man in den Rest Österreichs einen frischen negativen Corona-Test.
 
In jeder Gesellschaft gibt es Tabus, an die man nicht gerne rührt. Ein solches ist, dass manchmal auch die Männer die Benachteiligten sind. Wenn die Frauen benachteiligt sind, dann wird das sofort an die große Glocke gehängt, und das finde ich angesichts der weit häufigeren und systematischeren Benachteiligung von Frauen auch völlig in Ordnung. Aber muss das in Folge dazu führen, dass wir offenkundige Benachteiligungen der Männer unter den Teppich kehren? Tabus waren nie hilfreich und sind es auch nicht, wenn sie vordergründig den Frauen nützen.
 
Woran denke ich? Es hat sich ganz eindeutig gezeigt, dass Männer von der Pandemie gesundheitlich weit mehr und schlimmer betroffen sind. Zwar stecken sich in Deutschland (und womöglich auch in Österreich) geringfügig mehr Frauen als Männer an – was de facto heißt, dass die Ansteckungswahrscheinlichkeit exakt gleich ist, denn es gibt ja geringfügig mehr Frauen als Männer, weil Männer früher sterben. Aber auf den Intensivstationen landen von den Infizierten zu 70 Prozent Männer und nur zu 30 Prozent Frauen. Weltweit ist das Verhältnis sogar nahe an 75 zu 25 Prozent. Und die Sterberate der infizierten Männer ist, wenn man jeweils gleichalte Personen vergleicht, 2 bis 2,5 Mal so hoch wie die der Frauen. Das Geschlecht ist nach dem Alter der zweitwichtigste Faktor, an Covid-19 schwer zu erkranken oder zu sterben.
 
Wer es genau nachlesen will, findet hier die einschlägige Meta-Studie des University College London: https://www.nature.com/articles/s41467-020-19741-6?ref=theprepping-com 
 
Diese Geschlechter-Differenz bei der Abwehr von Infektionen ist gut erklärbar. An einer Ursache sind die Männer „selber schuld“: Sie gehen in der Regel später zum Arzt als Frauen. Oft so spät, dass es eben zu spät ist. Für die zweite Ursache können die Männer allerdings rein gar nichts: Sie liegt nämlich in unseren Genen. Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer nur eines. Nun liegen aber auf dem X-Chromosom entscheidende Gene, die die Immunabwehr unseres Körpers steuern. Wenn man sie zweimal hat, ist es daher völlig logisch, dass die Immunabwehr robuster ist. Frauen entwickeln daher schneller Antikörper und T-Zellen, weshalb sie mit Infektionen besser zurechtkommen. Frauen leiden allerdings auch häufiger an Autoimmunkrankheiten, also Krankheiten, bei denen sich die Immunabwehr irrtümlich gegen den eigenen Körper wendet.
 
Nun könnte man argumentieren: Das ist doch sehr gerecht: Männer leiden mehr an Infektionen, Frauen mehr an Autoimmunkrankheiten – da sind die Geschlechter pari. Einmal abgesehen davon, dass die Natur keine Gerechtigkeit kennt, mag das stimmen. Die Frage, die wir uns zu stellen haben, ist aber, ob wir nicht die „Ungerechtigkeiten“ der Natur überall dort ausgleichen sollten, wo das möglich ist. Eigentlich ist genau das die 2500 Jahre alte Gerechtigkeitsvorstellung der europäischen Kultur. Die Menschen in höherem Alter sowie die „vulnerablen Gruppen“ werden daher bei der Impfung bevorzugt. Und das ist vollkommen richtig. Aber wenn das Geschlecht nach dem Alter der zweitstärkste Risikofaktor ist, an Covid-19 zu sterben, dann müssten die Männer entsprechend früher geimpft werden. Natürlich nicht alle Männer zuerst, aber innerhalb einer Alters- oder Risikogruppe müssten jeweils erst die Männer und dann die Frauen drankommen. „Frauen und Kinder zuerst”, der alte Grundsatz der Schifffahrt, der schon 1852 in einem Codex festgeschrieben wurde, müsste also bei der Covid-Impfung genau umgedreht werden – wie gesagt nicht als erstes, sondern als zweites Kriterium. Das würde auch den Frauen nutzen, da die Zahlen auf den Intensivstationen und in den Krematorien eher sinken würden und die Restriktionen für alle (!) schneller gelockert oder aufgehoben werden könnten. Das Argument ausgleichender Gerechtigkeit stimmt hier also nicht, weil ja alle mitbetroffen sind, solange die Zahl der IntensivpatientInnen und Sterbenden hoch ist – und im Pflegebereich sogar ganz besonders die Frauen!
 
Dennoch ist es ein politisches Tabuthema, an das sich niemand drantraut. Nicht das Robert-Koch-Institut, nicht die AGES, nicht die deutsche und nicht die österreichische Regierung. Männer zu bevorzugen ist schlicht tabu. Das zeigt, wie tief der Stachel der Benachteiligung der Frauen sitzt und wie wenig wir frei sind, das Klügste und Vernünftigste zu tun. Ja, leider können wir nicht so nüchtern und rational entscheiden wie wir denken und wollen.
 
Aber vielleicht gibt es doch ein paar kluge Frauen. Es ist ja jeder selbst überlassen, sich innerhalb ihrer Altersgruppe eher früh oder eher spät impfen zu lassen. Vielleicht könnte ja der neue Slogan sein: „Alte und Männer zuerst!“ Corona ist nämlich nicht der Untergang der Titanic!
 
In diesem Sinne herzliche Grüße,
 
Michael Rosenberger