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Pilgern durch die Coronakrise - 13. März 2021

Liebe Wandernden durch das Labyrinth der Pandemie,

nicht im allerhellsten Rampenlicht spielt sich derzeit eine weitere Pandemie ab – bei Pferden. In Valencia haben sich bei einem Turnier 22 Pferde mir der Herpes-Virus-Variante EHV-1 angesteckt, 11 von ihnen sind gestorben. Die auf der Turnieranlage verbliebenen 160 Pferde befinden sich in Quarantäneställen – nur Maskentragen scheint für die Pferde kein Thema zu sein. Fälle der Virus-Variante EHV-1 gibt es bereits in sieben europäischen Ländern: Spanien, Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Schweden und die Schweiz. Und es werden sicher noch mehr. Man sieht: Es ist die enorme Mobilität, die die Viren zum Mitreisen einlädt – egal ob es sich um reisende Tiere oder reisende Menschen handelt.

Von der Corona-Front kommen derzeit etliche gute, aber auch einige sehr besorgniserregende Nachrichten. Österreich hat heute die 200er-Marke der 7-Tage-Inzidenz überschritten, und es geht weiter steil nach oben. Man kann sich bereits ausrechnen, dass wir vor Ostern im dritten harten Lockdown landen. Und auch in Deutschland steigt die Inzidenz mittlerweile schnell an, so dass das Robert-Koch-Institut den 200er-Inzidenz-Wert in zwei bis drei Wochen erwartet. Ich selber war heute zum Bergwandern. Bei meiner Rückkehr musste ich die Landstraße, die Haupteinkaufsstraße in Linz, queren. Mir verschlug es die Sprache: Ich hatte den Eindruck, es wäre ein völlig normaler Einkaufssamstag ohne Pandemie. Die Menschen dicht gedrängt, gemütlich flanierend, maximal 5 Prozent mit Maske, eher weniger.

Demgegenüber verblassen die guten Nachrichten leider erheblich: In der EU ist ein vierter Impfstoff zugelassen – von Johnson & Johnson. Auch wenn er erst Ende April geliefert wird, ist das ein Hoffnungssignal. In meiner persönlichen Nachbarschaft hier in Linz werden derzeit die über 80-Jährigen geimpft. Die Stadt Linz ist mit der ersten Impfung bereits ungefähr in der Mitte des Alphabets angekommen – in zehn Tagen sollten alle Personen dieser Altersgruppe die erste Impfung haben. Das wird dann die verletzlichste Gruppe schon halbwegs schützen. Zugleich hört man aus den Krankenhäusern, dass immer mehr junge Menschen mit einer schweren Covid-Erkrankung eingeliefert werden. In den Nachbarländern Österreichs sind die Intensivstationen schon wieder überlastet.

Morgen feiern wir den Sonntag „Laetare“, der liturgisch mit dem Satz beginnt: „Freue dich, du Stadt Jerusalem!“ Zu dieser Freude sind wir trotz der bedrückenden Corona-News eingeladen, weil wir die Halbzeit der vierzig Tage auf Ostern zu erreicht haben. Sie gibt Gelegenheit, dankbar auf alle gelungenen Fastenanstrengungen zurückzuschauen, wo nötig kleine Kurskorrekturen vorzunehmen und uns darüber zu freuen, dass Ostern schon spürbar näher kommt. Die alttestamentliche Lesung bietet aber eher „starken Tobak“ als eine Freudenbotschaft:

Lesung aus dem zweiten Buch der Chronik

Alle führenden Männer Judas und die Priester und das Volk begingen viel Untreue. Sie ahmten die Gräueltaten der Völker nach und entweihten das Haus, das der HERR in Jerusalem zu seinem Heiligtum gemacht hatte. Immer wieder hatte der HERR, der Gott ihrer Väter, sie durch seine Boten gewarnt; denn er hatte Mitleid mit seinem Volk und seiner Wohnung. Sie aber verhöhnten die Boten Gottes, verachteten sein Wort und verspotteten seine Propheten, bis der Zorn des HERRN gegen sein Volk so groß wurde, dass es keine Heilung mehr gab. Der HERR ließ nun den König der Chaldäer gegen sie heranziehen. Dieser tötete ihre jungen Krieger in ihrem Heiligtum mit dem Schwert und verschonte keinen jungen Mann und keine junge Frau, keinen Greis und Betagten; alle gab Gott in seine Hand. Nebukadnezzar ließ die großen und kleinen Geräte des Hauses Gottes, die Tempelschätze und die Schätze des Königs und seiner hohen Beamten insgesamt nach Babel bringen. Die Chaldäer verbrannten das Haus Gottes, rissen die Mauern Jerusalems nieder, legten Feuer an alle seine Paläste und zerstörten alle wertvollen Geräte. Alle, die dem Schwert entgangen waren, führte Nebukadnezzar in die Verbannung nach Babel. Dort mussten sie ihm und seinen Söhnen als Sklaven dienen, bis das Reich der Perser zur Herrschaft kam. Da ging das Wort in Erfüllung, das der HERR durch den Mund Jeremias verkündet hatte. Das Land bekam seine Sabbate ersetzt, es lag brach während der ganzen Zeit der Verwüstung, bis siebzig Jahre voll waren.

„Das Land bekam seine Sabbate ersetzt!“ Das ist ein hartes Wort in einem vom ersten bis zum letzten Satz schwer verdaulichen Text. Denn die Verfasser des zweiten Buchs der Chronik sind davon überzeugt, dass die babylonische (oder, wie sie hier genannt wird, „chaldäische“) Gefangenschaft eine Strafe Gottes für das Fehlverhalten Israels ist. „Das Land bekam seine Sabbate ersetzt!“ Die Verfasser der Chronikbücher behaupten also, dass die IsraelitInnen dem Land, also der Umwelt, den Äckern und Wäldern, zu viel entnommen und keine Brachzeiten oder Ruhezeiten gegeben haben. Sie haben gewirtschaftet ohne Maß, haben sich selbst und die Böden ausgebeutet, bis es nicht mehr ging. Die Gier nach immer mehr Wohlstand hat sie getrieben, und sie haben nicht mehr innegehalten und nachgedacht. Völlig plan- und gedankenlos haben sie das Hamsterrad immer schneller angetrieben.

Jetzt kann das Land das alles nachholen. Jetzt können sich die Böden und Gewässer erholen, die Tiere und Pflanzen aufatmen und neu gedeihen. Jetzt bekommen sie jene Sabbate, die ihnen die IsraelitInnen entgegen den göttlichen Geboten nicht zugestanden haben. Am Sabbat, so heißt es in den verschiedenen Fassungen des Ruhetaggebots, soll nicht nur jeder Mensch ausruhen können, sondern auch jedes Tier. Und im Sabbatjahr, jedem siebten Jahr, sollen sämtliche Äcker und Weinberge ruhen dürfen, damit sich Böden und Pflanzen erholen. Offensichtlich haben die IsraelitInnen diese Gebote in den Wind geschlagen und nur noch auf Gewinnmaximierung geschaut. Jetzt, so die biblischen Schriftsteller, legt Gott eine Vollbremsung hin – das Volk muss in die Gefangenschaft.

Lange Zeit hat die Kirche in schweren Zeiten ähnlich argumentiert wie diese Lesung: Es ist eine „Strafe Gottes“. Heute tun wir das kirchlicherseits nicht mehr – was in der Corona-Pandemie manche Menschen sehr verwundert hat. Außerhalb der Kirchen gibt es jedoch eine andere Interpretation, die fast austauschbar ist: Mutter Natur schlägt zurück! Das ist ein bisschen naturphilosophischer, aber der Grundgedanke bleibt gleich: Der Mensch hat sein schweres Los selbst verursacht. Jetzt muss er es ausbaden.

In der gegenwärtigen kirchlichen Verkündigung sind wir vorsichtiger. Wir verzichten auf allzu direkte Schuldzuweisungen und Kausalketten. Wir wissen und betonen, dass die Zusammenhänge vergleichsweise komplex sind. Daher würden wir im Falle der Pandemie jedenfalls betonen, dass den Menschen nicht allein die Schuld daran trifft, dass es diese Pandemie gibt. – Ja, hätten die Chinesen die Wildtiere in Freiheit gelassen, wäre das Virus in diesem Fall nicht übergesprungen. Ja, würden wir nicht so viel quer durch alle Kontinente reisen, wäre das Virus vermutlich in China geblieben und nicht nach Europa oder Amerika gekommen. Ja, würden wir in den Industrieländern nicht Tag für Tag so viel umherfahren, hätte sich die Ausbreitung bei uns bremsen lassen. Stimmt alles und ist ernst zu nehmen. Aber auch wenn wir das alles getan hätten, wäre früher oder später die nächste Pandemie gekommen. Wir haben die Millionen verschiedenen Typen von Viren einfach nicht unter Kontrolle. Irgendwann findet immer mal einer den Weg zu uns.

Insofern ist die Pandemie weniger Grund zur Schuldzuweisung als Anlass zur Neuorientierung: Lasst uns Corona, unser „babylonisches Exil“, als Chance zum Nachdenken nehmen, weil sich das Rad unserer freizeitlichen Aktivitäten derzeit langsamer dreht. Lasst uns dieses babylonische Exil als Chance verstehen zur Rückbesinnung und Neuorientierung. Aber lasst uns bitte nach dem Abklingen der Pandemie nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, so als wäre nichts gewesen!

Israel hat das Babylonische Exil als eine Zeit der Chance genutzt. In diesen Jahren haben die Menschen begriffen, dass es nur einen einzigen Gott gibt, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der alle Völker und alle Menschen und alle nichtmenschlichen Geschöpfe liebt. Sie haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und eine Gesellschaftsordnung für die Nachexilszeit entworfen, die zur damaligen Zeit alles Vergleichbare an Menschlichkeit, sozialem und ökologischen Verhalten und an Toleranz übertraf. Sie haben die großen biblischen Erzählungen geschrieben, die uns noch heute faszinieren.

Ich wäre glücklich, wenn unser gegenwärtiges babylonisches Exil auch nur halb so fruchtbar wird wie das damalige. Es würde noch Jahrhunderte später strahlen!

Mit herzlichen Grüßen

Michael Rosenberger