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Pilgern durch die Coronakrise - 14. Mai 2020

Liebe Pilgernde auf dem langen Weg durch die Corona-Ebene,

die Öffnungen gehen Schritt für Schritt voran, und wir bekommen Aussicht, bald wieder die Grenzen passieren zu dürfen – jedenfalls zwischen den Ländern, die ungefähr gleich niedrige Zahlen an Neuinfektionen aufweisen. Das ist ein großer und erfreulicher Schritt und braucht doch im Hintergrund eine Menge Konzepte, damit nicht der erste Passagier, der die neue Reisefreiheit genießt, das Corona-Virus ist. Ohne diese Reisefreiheit im Vorfeld der Krise wäre es ja nie zur Pandemie gekommen. – Es ist gut, dass hier die Europäische Union, die in vielen anderen Materien der letzten Wochen zum Zuschauen verurteilt war, weil sie für diese keine Kompetenz hat, nun aktiv gestalten und steuern will.

Seit der letzten Rundmail beschäftigen wir uns mit dem vor wenigen Wochen auf Deutsch erschienenen Buch von Kyle Harper, Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reichs. Wie schon erwähnt befand sich das Klima von 200 v.Chr. bis 150 n.Chr. im sogenannten „Römischen Klimaoptimum (RCO)“: Es war mit außerordentlicher Konstanz warm und feucht. Danach folgt eine sehr wechselhafte Übergangsperiode von 150 bis 450 n.Chr. Die ägyptischen Aufzeichnungen der Messdaten der alljährlichen Nilüberschwemmungen im Frühling zeigen, dass nach 155 n.Chr. geringere Wassermengen vom Oberlauf des Nils herunterkommen als in den Jahrhunderten vorher. Diese Entwicklung verschärft sich offenbar zunehmend, denn 246 n.Chr. werden in Ägypten Zwangsaufkäufe des Getreides durch den römischen Staat angeordnet. Man fürchtet eine Explosion der Getreidepreise, wenn weiterhin auf dem freien Markt ge- und verkauft wird. Das kann nur heißen, dass das Getreide sehr knapp geworden ist. Und das in der Kornkammer des römischen Reichs.

Genau in dieser prekären Situation nähert sich eine Pandemie, die „Cyprianische Pest“, sehr wahrscheinlich eine Ebola-Pandemie. Das Ebola-Virus springt von Fledermäusen oder Menschenaffen auf den Menschen. Die Inkubationszeit beträgt 4 bis 10 Tage, der Tod tritt bei 50 bis 70 Prozent der Infizierten nach 6 bis 16 Tagen ein. Alexandria, die große Hafenstadt an der Mündung des Nils, wo die Seuche 249 zuerst auftritt, verliert etwa 60 Prozent der Bevölkerung  und schrumpft von 500.000 auf 200.000 EinwohnerInnen. Von Alexandria gelangt das Virus 251 nach Rom und von dort in große Teile des Reiches. Die Seuche erlischt erst 262 oder gar 270 n.Chr. Man kann sich vorstellen, was das bedeutet: Zwischen 248 und 268 n.Chr. herrscht Chaos im Reich. Die Einheit zerfällt, die Grenzsicherung bricht zusammen, das Währungssystem löst sich auf.

Und jetzt wird es für mich als Theologen spannend. Eine der größten Christenverfolgungen des Römischen Reichs war die Verfolgung unter Kaiser Decius 249. Das haben wir im Fach Kirchengeschichte rauf und runter gelernt. Ein Schlüsseldatum im Theologiestudium. Was wir damals aber nicht gelernt haben, ist der Grund, aus dem Decius die ChristInnen so brutal verfolgte. Den kannten die Historiker damals noch nicht. Decius ließ sofort nach Ausbruch der Pandemie auf sämtliche Münzen das Bild des „Pestgottes“ Apoll prägen. Und er verlangte von allen BürgerInnen im Reich, besonders diesem Gott zu opfern. Aus Sicht der römischen Götterreligion bei aller Toleranz völlig einsichtig. Die ChristInnen aber verweigerten das Götteropfer – auch wenn es um Leben und Tod ging. In diesem Anliegen beteten sie lieber zu ihrem eigenen Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. – Den Rest kann man sich leicht ausmalen: Wen sahen die RömerInnen als Schuldige dafür, dass die Pandemie immer weiter wütete? Na klar, die, die das Götteropfer verweigerten. Apoll strafte alle für die wenigen Ungehorsamen. Und so dürfte der Kaiser viel Zustimmung für seine unerbittliche Hinrichtung der ChristInnen erfahren haben.

Es wird aber für mich als Theologen noch spannender. Cyprian von Karthago, nach dem diese „Pest“ heute benannt wird, wird ungefähr 245 oder 246 n.Chr. Christ und lässt sich taufen. Zu dieser Zeit gab es nur ein paar Hunderttausend ChristInnen im Reich – eine verschwindend kleine Minderheit. Da leuchtet es ein, dass Cyprian auf Grund seiner exzellenten Bildung schon 248 Bischof von Karthago wird, also zwei oder drei Jahre nach seiner Taufe. Heute muss man allein doppelt so lange studieren, um Priester zu werden. Cyprian legt also kirchlich betrachtet einen steilen Aufstieg hin. Weltlich allerdings nützt ihm das nichts – im Jahr 258 n.Chr. fällt er selbst der Christenverfolgung zum Opfer und wird hingerichtet.

Cyprian ist einer der großen Zeugen der Klimaveränderung und der Pandemie – weswegen diese auch nach ihm benannt ist. In einer Schrift an den Heiden Demetrianus schreibt er: „(3) Du hast behauptet, w i r hätten die Schuld und u n s müsse all das zugerechnet werden, was jetzt die Welt erschüttert und bedrängt, weil eure Götter von uns nicht verehrt würden. In dieser Beziehung musst du, der du von göttlicher Erkenntnis keine Ahnung hast und der Wahrheit ferne stehst, in erster Linie wissen, dass die Welt bereits alt geworden ist, dass sie nicht mehr in ihrer früheren Kraft steht und sich nicht mehr derselben Frische und Stärke erfreut, in der sie ehemals prangte. Auch wenn wir schweigen und keine Belege aus den heiligen Schriften und den göttlichen Verkündigungen beibringen, so redet schon die Welt selbst eine deutliche Sprache, und sie bezeugt ihren eigenen Untergang durch den sichtlichen Verfall aller Dinge. Nicht mehr reicht im Winter des Regens Fülle aus, um die Samen zu nähren, nicht mehr stellt sich im Sommer die gewohnte Hitze ein, um das Getreide zur Reife zu bringen, nicht mehr kann sich der Frühling seiner früheren Milde rühmen, und auch der Herbst spendet uns die Früchte der Bäume nicht mehr in so reicher Menge. […] (5) Wenn nun aber immer häufiger Krieg auf Krieg folgt, wenn Misswuchs und Hungersnot die Besorgnis häufen, wenn durch wütende Seuchen die Gesundheit zerstört, wenn das Menschengeschlecht durch die Verheerung der Pest vernichtet wird, so wisse: […] all das geschieht nicht etwa, wie deine falsche Klage und deine der Wahrheit bare Unwissenheit mit Geschrei verkündet, aus dem Grunde, weil eure Götter bei uns keine Verehrung finden, sondern umgekehrt, weil der eine Gott von euch nicht verehrt wird. Denn da er der Herr und Lenker der Welt ist und alles nach seinem Wink und Willen geschieht und nichts geschehen kann, außer was er entweder selbst tut oder geschehen lässt, so treten doch sicherlich solche Ereignisse, die den Grimm des zürnenden Gottes zeigen, nicht unseretwegen ein, von denen doch Gott verehrt wird, sondern sie gelten euren Vergehen und eurer Schuld. Denn von euch wird Gott überhaupt nicht gesucht oder gefürchtet, ihr verlasst nicht den eitlen Aberglauben und erkennt nicht die wahre Religion, so dass er, der allein unser aller Gott ist, auch allein von allen verehrt und angebetet würde.“ Cyprian dreht also den Spieß einfach um und macht die „Heiden“ für die Klimaverschlechterung und die Seuche verantwortlich. Eine Strategie, die zunächst nicht viel Erfolg hat.

Dennoch: Nach dem Abklingen der Seuche um 270 n.Chr., also zwölf Jahre nach Cyprians Tod, kommt es zu Masseneintritten in die Kirche. Während es vor der Pandemie nur ein paar Hunderttausend ChristInnen im Reich gegeben hatte, sind es um 300 n.Chr. bereits 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung, also annähernd 10 Millionen. Das Christentum ist innerhalb dreier Jahrzehnte ein „Massenphänomen“ (Harper 2020,231) geworden. Der Zeitzeuge Eusebius von Caesarea berichtet von „tausendköpfigen Versammlungen… Stadt für Stadt“. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Die Seuche führt den Menschen die Ohnmacht der antiken Götter, namentlich Apolls, vor Augen. Die ChristInnen hingegen haben auf Grund der Auferstehungshoffnung keine Angst vor der Seuche und pflegen die Kranken hingebungsvoll, was bei Ebola, wie wir heute wissen, die Sterblichkeit erheblich verringern kann.

Höchstwahrscheinlich lag die Todesrate bei den ChristInnen niedriger als in der Gesamtbevölkerung. Und so kommt es zu einem ungeahnten sozialen Aufstieg der Kirche. Schon vor dem Jahr 300 n.Chr. können christliche Bischöfe Empfehlungsschreiben für den weltlichen Bereich verfassen – sie sind auch für die NichrchristInnen Autoritäten geworden. Es ist die Zeit der Abkehr vom Polytheismus, „eine totale Katastrophe für die traditionellen Kulte“ (Harper 2020,234). Das Christentum ist nun „eine Macht, mit der zu rechnen war.“ (Harper 2020,235)

Ich gebe zu, es macht mich sehr demütig, die Zufälligkeit wahrzunehmen, die das Christentum zur Top-Religion im Römischen Reich gemacht hat. 250 Jahre schläft es eigentlich einen Dornröschenschlaf und ist eine winzige Minderheit. Und dann kommt eine Pandemie, verbunden mit den ersten Lebensmittelknappheiten seit Jahrhunderten, fegt die alte Religion weg und bringt die neue Religion nach oben. Dass Kaiser Konstantin sich wenig später dieser neuen Religion anschließt, ist nicht verwunderlich. Er folgt nur einem Trend, der schon einige Jahrzehnte vor ihm begonnen hat. Er hat (bei aller persönlichen Glaubensüberzeugung) den richtigen Riecher, wer die Gewinnerin ist…

Man erkennt die ChristInnen damals also daran, wie sie mit den Krisen ihrer Zeit umgegangen sind. Und es waren weit schlimmere Krisen als derzeit, denn die Menschen hatten keine medizinischen Kenntnisse über das Ebola-Virus. Die Hälfte aller Menschen starb. Insofern lade ich ein, darüber nachzudenken, ob man uns auch heute daran erkennen kann, wie wir mit der Corona-Krise und der Klimakrise umgehen. Möglicherweise sollten wir da noch ein wenig an uns arbeiten.

In diesem Sinne herzliche Grüße,

Michael Rosenberger

PS: Wer den ganzen Brief Cyprians an Demetrianus lesen möchte, findet ihn hier: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel2043.htm