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Pilgern durch die Coronakrise - 16. Januar 2022

Liebe Pilgernden im Anrollen der Omikron-Welle,

so langsam können wir ahnen, wie hoch die Infektionszahlen Mitte Februar sein dürften. Vom Ausmaß der Ansteckungen her hat es in der gegenwärtigen Pandemie noch nichts Vergleichbares gegeben. Und auch wenn die Verläufe mit Omikron weniger oft schwerwiegend sind und seltener die Einweisung in ein Krankenhaus oder auf eine Intensivstation bedeuten, ist doch zu befürchten, dass auf Grund der hohen Zahl an Erkrankten die nächste Überlastung der Intensivstationen droht. In England und den USA ist man schon so weit, und dabei hat zumindest England eine höhere Impfquote. Es könnte bei uns also sogar noch schlimmer kommen.

Dennoch möchte ich zunächst ein pandemieunabhängiges Thema aufgreifen: Verschiedentlich wurde ich gefragt, was ich vom sogenannten „Taxonomie-Streit“ halte, also dem Streit in der Europäischen Union über die Frage, ob Kernkraftwerke und Gaskraftwerke unter gewissen Bedingungen als nachhaltig gelten dürfen oder nicht. Dazu muss man zunächst einmal klären, worum genau gestritten wird. Seit über zwei Jahren arbeitet die EU-Kommission daran, eine Verordnung zur Kennzeichnung von Geldanlagen zu erlassen. Immer mehr Menschen legen ihr Geld nicht mehr auf dem Sparbuch an, weil das bei negativen Zinsen verlustreich ist, sondern in Aktien, Fonds und anderen Anlageformen. Aber immer mehr von ihnen möchten das mit gutem Gewissen tun, und das ist alles andere als trivial. Ich sitze selbst in drei Ethikbeiräten, zweien auf der Anbieterseite (also Ethikbeiräte von Aktien- und Anleihenfonds) und einem auf der KundInnenseite (nämlich bei der Versicherung, bei der die Diözese Linz die betriebliche Altersvorsorge ihrer MitarbeiterInnen anlegt). In diesen Gremien arbeiten wir hochprofessionell, mit der Möglichkeit, auch teures Knowhow von ethischen Ratingagenturen abzufragen. Das kostet aber viel Geld.

Damit eine ethische Klassifizierung von Geldanlagen künftig leichter und kostengünstiger wird, hat die EU sich entschlossen, ein Gütesiegel für nachhaltige Geldanlagen einzuführen. Das ist analog zum EU-Bio-Siegel auf Lebensmitteln. Otto Normalverbraucher und Ottilie Normalverbraucherin brauchen also in Zukunft keine teure Bankberatung mehr, wenn sie ihr Geld verantwortungsbewusst veranlagen wollen, und kleine Sparkassenangestellte brauchen kein ethisches Zusatzstudium mehr, um gut über ethische Geldanlagen beraten zu können, wozu sie nämlich ab Juli gesetzlich verpflichtet sind. So weit so gut, wirklich gut.

Aber damit man Unternehmen auf ihre Nachhaltigkeit hin taxieren kann, braucht man eine „Taxonomie“, ein Regelwerk, griechisch „Nomos“, nach dem die Unternehmen beurteilt, griechisch „taxiert“ werden. Und genau hierum geht es. Natürlich wollen jetzt alle Unternehmen im Sinne der Taxonomie „grün“ sein und damit attraktiv für AnlegerInnen. So wie Lebensmittel mit dem EU-Bio-Siegel teurer verkauft werden können, so werden Aktien und Fonds, die das „grüne“ EU-Zertifikat bekommen, am Markt höhere Börsenpreise und höhere Renditen erreichen. Es geht also nicht um Fördergelder der EU, wie manchmal gesagt wird, sondern um das Geld der PrivatanlegerInnen, die Kapitalanlagen suchen. Und wie erwähnt sind das fast alle von uns, sofern wir nur eine Lebensversicherung oder irgendetwas dergleichen besitzen. Wir müssen gar nicht selber AktionärInnen sein.

Ich vermute, allmählich lichten sich bei euch/ Ihnen die Nebel: Wenn die Kernkraft (unter gewissen, sehr großzügigen Bedingungen) als „grün“ eingestuft wird, dann können Elektrizitätsunternehmen mit Kernkraftwerken zusätzliche Aktien oder Anleihen zu höheren Preisen emittieren. Und das ist das Geld, mit dem sie neue Kernkraftwerke bauen. Dieses Geld brauchen sie ungemein dringend. Die französischen Kernkraftwerke zum Beispiel haben alle nur noch eine Restlaufzeit von weniger als zehn Jahren. Sie sind uralt und müssen bald abgeschaltet werden. Die Électricité de France, der zweitgrößte Stromerzeuger der Welt, wird also Unsummen an Geld benötigen, um in zwanzig Jahren noch am Leben zu sein. Und Atomkraft ist die teuerste (!) Form der Stromerzeugung. Ganz abgesehen davon, dass die Industrie, die Atomkraftwerke baut, für Frankreich nahezu das ist, was für Deutschland die Autoindustrie ist: Eine der größten Arbeitgeberinnen.

Nun ist vollkommen klar, dass Atomkraft alles ist, aber nicht nachhaltig. Sie ist eine fossile Energie, die ebenso endlich ist wie Erdöl oder Erdgas. Sie ist unsicher, weil Kernkraftwerke trotz enormer Vorkehrungen so sicher nicht sind, wie man vermuten würde. Fukushima hat das eindrücklich gezeigt – und das, obwohl man in aller Welt weiß, dass die japanischen Atomkraftwerke mit Abstand die sichersten sind. Offenbar nicht sicher genug. Vor allem aber ist die Endlagerfrage fast nirgends auf der Welt gelöst. In Deutschland gab es eine Kommission, die 2016 einen Vorschlag vorgelegt hat, wie die deutsche Regierung den am besten geeigneten Standort für ein Endlager des Atommülls finden könne. Das Ergebnis dieser Suche soll in einigen Jahren vorliegen. Aber sobald das der Fall ist, werden die an diesem Standort lebenden Menschen protestieren. Den Strom nehmen wir gerne, den Müll will aber keiner haben. Und das ist weltweit so. Nur in Finnland wird derzeit an einem Enedlager gebaut, das bis 2025 in Betrieb gehen wird: Auf der Ostseeinsel Olkiluoto hoch im menschenleeren Norden des Landes. Da könnten nur die Rentiere protestieren.

Wie also weiter? Da die Kompetenz für eine Verordnung bei der EU-Kommission liegt, können die Regierungen der Mitgliedsstaaten das Projekt nur mit sehr überwältigender Mehrheit stoppen – und die ist nicht in Sicht. Verheißungsvoller scheint der Rechtsweg. Die österreichische Umwelt- und Klimaschutzministerin Eleonore Gewessler hat bereits eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angekündigt, und die grüne Fraktion im EU-Parlament dürfte sich anschließen. Vielleicht auch andere Länder und andere EP-Fraktionen. Juristen aus meinem Umfeld halten eine solche Klage für relativ aussichtsreich. Letztlich ist es ja ein Hohn, wenn Atomkraft als umweltfreundlich und nachhaltig deklariert wird. Sachlich lässt sich das kaum begründen, und das müsste auch ein Gericht unter Verbraucherschutzaspekten so entscheiden.

Bis zum Ausgang des Rechtsstreits dürften allerdings einige Jahre vergehen – und solange haben die Geldanlagen in Atomkraft dann das grüne Label. Das heißt aber nicht, dass wache KonsumentInnen keine Chance hätten. Schon heute schließen viele AnlegerInnen, darunter auch alle Diözesen Österreichs, die Kernkraft für ihre Geldanlagen aus (und ab 2025 auch Gaskraftwerke). Für sie stehen zahlreiche Finanzprodukte bereit, die ausdrücklich die Investition in Kernkraft ausschließen. Das kann man in den Informationsprospekten zu einer Finanzanlage auch jederzeit nachlesen. Es steht im „Kleingedruckten“, aber es steht drin – und Falschangaben in den Verkaufsprospekten von Fonds werden von der Finanzmarktaufsicht geahndet. Außerdem gehe ich davon aus, dass Umweltorganisationen auf ihren Homepages Listen echter grüner Geldanlagen zur Verfügung stellen werden und umgekehrt die schwarzen Schafe beim Namen nennen. So ärgerlich die Taxonomie-Kontroverse also ist, ich halte sie auf lange Sicht nicht für sehr gefährlich. Sie wird sich lösen. Vielleicht wird sie die Debatte über ethische Geldanlagen sogar befördern – und die Sensibilität der Menschen erhöhen. Denn so wie sich viele nicht mit EU-Bio-Lebensmitteln zufrieden geben, sondern gezielt auf die strengeren Zertifikate der Öko-Anbauverbände achten, so könnte es auch bei den Geldanlagen kommen: Dass das EU-Nachhaltigkeitssiegel zum Mindeststandard wird, über dem aber strengere Siegel stehen wie z.B. das schon seit vielen Jahren existierende österreichische Umweltzeichen UZ 49 „Nachhaltige Finanzprodukte“ oder die Deklaration einer Geldanlage als FINANKO-kompatibel, d.h. den strengen Anforderungen der Österreichischen Bischofskonferenz an ethische Geldanlagen genügend.

Mein eigentliches Corona-bezogenes Hauptthema heute ist ein anderes: Citizen responsibility – BürgerInnenverantwortung. Das Beispiel der Geldanlagen zeigt hervorragend, wie wichtig solche BürgerInnenverantwortung als Ergänzung und Zwilling zur KonsumentInnenverantwortung geworden ist. KonsumentInnenverantwortung ist bei den Geldanlagen unsere Verantwortung, auf ethisch gute Geldanlagen zu achten, wenn wir eine Lebensversicherung kaufen oder für die Altersvorsorge ein wenig Erspartes in Aktien oder Fonds anlegen. BürgerInnenverantwortung ist es, auf politische Prozesse Einfluss zu nehmen und sie mitzugestalten – durch Worte ebenso wie durch Taten. Also z.B. durch Mitgliedschaft oder Mitwirken in einer Umweltorganisation, die die Klage gegen die Taxonomie-Verordnung unterstützt.

Ganz am Anfang meiner Rundbriefe habe ich bereits zweimal auf das berühmte Diktum des früheren deutschen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde von 1976 hingewiesen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das macht deutlich, dass die Individuen in einem demokratischen Rechtsstaat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben – dass diese Pflichten jedoch vom Staat nicht vorgeschrieben werden können. Aber wenn wir sie nicht wahrnehmen, führt das auf lange Sicht zur Erosion der Demokratie.

Konkret: Es gehört zu den BürgerInnenrechten, dass wir unsere Meinung frei und öffentlich äußern können und uns dazu auch zusammenschließen können zu Demonstrationen und anderen Initiativen. Das ist ein hohes Gut. Freilich immer im Rahmen der geltenden Hygieneregeln. Eine Demonstration leidet nicht darunter, dass die Teilnehmenden Schutzmasken tragen und zueinander einen gewissen Abstand halten. Und selbstverständlich begrüße ich es, dass auch Gegendemonstrationen stattfinden, die den Corona-MaßnahmengegnerInnen widersprechen. In Wien zündeten sie vor wenigen Tagen für jeden Corona-Toten Österreichs ein Licht an, in Schweinfurt „beschützten“ sie das Rathaus, in Marktheidenfeld hieß das Motto „impfen statt schimpfen“. Gut, dass den MaßnahmengegnerInnen nicht einfach das Feld überlassen wird.

Spiegelbildlich zu den BürgerInnenrechten gehört es zu den BürgerInnenpflichten, dass wir uns sorgsam und bestmöglich über eine bestimmte Sache informieren und nicht einfach der erstbesten Äußerung hinterherlaufen. Die sozialen Medien sind da keine sehr verlässliche Quelle. Auch innerhalb der professionellen Medien gibt es solche mit mehr oder weniger Qualität. Da müssen wir achtsam unterscheiden. Sorgfalt bei der eigenen Meinungsbildung schließt außerdem ein, die Grenzen unserer eigenen Fähigkeiten zu erkennen. Wir sind eben keine VirologInnen oder EpidemiologInnen, und wir werden es auch nicht nach zwei oder drei Jahren Pandemie sein. Das einzusehen und das Wissen der echten ExpertInnen zu schätzen würde vermutlich manche Kontroverse stark entspannen. Wir müssen nicht jede virologische Erkenntnis verstehen, aber wir müssen anerkennen, dass wir sie nicht verstehen, und denen Vertrauen schenken, die sie auf Grund ihrer wissenschaftlichen Expertise verstehen.

Umgekehrt hat jeder und jede von uns einige Felder, in denen wir echte ExpertInnen sind. Und das geht über berufliche ExpertInnenschaft weit hinaus. Ich denke zum Beispiel an die Expertise von Eltern in der Kindererziehung. Wohlgemerkt gilt es auch da, die wissenschaftliche Pädagogik und ihre Erkenntnisse zu achten. Aber durch ihr praktisches Tun und dadurch, dass sie Abend für Abend darüber nachdenken, ob sie ihr Kind gut durch den Tag begleitet haben, gewinnen Eltern viele Erfahrungen – auf die wiederum die wissenschaftliche Pädagogik hören muss. Die Kunst der BürgerInnenpflicht zur Mitgestaltung des Staatswesens liegt also darin, dass alle ihre Fähigkeiten erkennen und zugleich um die Grenzen dieser Fähigkeiten wissen.

BürgerInnenpflichten bedeuten aber auch praktisches Engagement. Kein Staat der Welt kommt ohne das unendlich vielfältige ehrenamtliche Engagement seiner BürgerInnen aus. Und das haben wir leider in der Konsumgesellschaft ziemlich verlernt. Wir denken allzu leicht: „Ich zahle Steuern, also soll der Staat mal machen!“ So funktioniert es aber nicht. Nun will ich nicht den Eindruck erwecken, es gäbe kein ehrenamtliches Engagement. Nein, das gibt es allen empirischen Daten nach mehr denn je zuvor. Man denke nur an die Freiwilligen Feuerwehren, das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen, die jederzeit auf Abruf bereit stehen. Oder an die vielen Freiwilligen, die in den Impfstraßen für uns Dienst tun. Aber je mehr Wohlstand eine Gesellschaft erreicht, umso mehr ehrenamtliche Dienste dieser Art braucht sie auch. Und je komplexer eine Gesellschaft wird, umso bürokratischer werden auch ihre Abläufe – und dann fehlt es oft am blitzschnellen Handeln, wo es noch keine etablierte Organisation gibt.

Gott sei Dank ist der demokratische Staat nicht allmächtig und nicht omnipräsent. Gott sei Dank lässt er uns viele Freiräume. Aber die müssen wir gestalten und verantworten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dass in den letzten Wochen mehr und mehr Betriebe ihren MitarbeiterInnen (und teilweise auch deren Angehörigen) Impfangebote machen und für die Impfung werben, ist klasse. Und dass zunehmend auch Kirchengemeinden und Bischofskirchen und sogar Moscheegemeinden (!) Impfaktionen organisieren, ist ebenso ein tolles Signal. Dass schließlich sogar große Vereine ihre Mitglieder zum Impfen bewegen oder Impfungen organisieren, ist großartig. Man hätte aber auch schon vor einem halben Jahr darauf kommen können. Es hat lange gedauert, bis die Verantwortlichen in den genannten Institutionen gemerkt haben, dass sie anpacken können. Natürlich ist es die Pflicht des Staates, Impfmöglichkeiten für alle zur Verfügung zu stellen. Aber er ist eben nicht so nah an den Leuten dran, dass alle sein Angebot annehmen würden. Und da sind die nichtstaatlichen Organisationen gefordert.

Allzu oft reagieren wir BürgerInnen und unsere Vereine langsamer als der Staat. Wenn der nicht zackzack alles richtig macht, dann sind wir schnell mit Beschwerden bei der Hand. Aber mal ganz ehrlich: Sind wir immer zackzack da, wenn wir gebraucht werden? Das frage ich mich durchaus auch selbstkritisch für die Kirche und meine Rolle darin. Am Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 waren kirchliche und nichtkirchliche Hilfsorganisationen und Einzelaktivitäten blitzschnell zur Stelle. In der Pandemie haben wir offenbar länger gebraucht, um unsere Möglichkeiten zu entdecken und anzubieten.

Gleich bei mir um die Ecke in der Linzer Herrenstraße steht ein winzig kleines Denkmal, darauf der berühmte Satz aus der Antrittsrede des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy: „Und deshalb, meine amerikanischen Mitbürger: Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Das trifft den Nagel auf den Kopf. Und so wünsche ich uns allen ein gutes Nachdenken über diesen Satz. Vielleicht könnten ja aus der Zeit der Pandemie manche Initiativen entstehen, die weit über diese Zeit hinaus erhalten bleiben. Die wären dann wert, in der EU-Taxonomie das Nachhaltigkeitslabel zu bekommen!

Mit guten Wünschen,

Michael Rosenberger