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Pilgern durch die Coronakrise - 17. Januar 2021

Liebe Mitpilgernden im länger und länger werdenden Lockdown, 

zunächst einmal hänge ich ein Interview an, das heute in den Salzburger Nachrichten erschienen ist und sich dem Thema Tiere widmet. Ich wünsche eine gute Lektüre und vielleicht einen kurzen Moment, die Krise zu vergessen.

Hier geht es zum Artikel der Salzburger Nachrichten.

Heute möchte ich ein Thema aufgreifen, das weit über die Pandemie hinausreicht, in ihr aber nicht selten spürbar ist: Mit jedem zusätzlichen Jahr an seelsorglicher Erfahrung merke ich deutlicher, wie sehr wir Menschen uns mit anderen vergleichen – und wie sehr wir unsere Lebenszufriedenheit davon abhängig machen, ob dieser Vergleich halbwegs günstig für uns ausgeht. Das ist, wie ich im Folgenden zeigen möchte, ein sehr zweischneidiges Schwert.

Schon in der Bibel ist das Vergleichen eine der häufigsten Ursachen für Konflikte zwischen Geschwistern: Kain und Abel, Jakob und Esau, die Apostel, die um die besten Plätze streiten… Ständig geht es darum, sich dadurch gut fühlen zu wollen, dass es anderen schlechter, auf jeden Fall aber nicht besser geht. Wenn Vater oder Mutter oder beide Eltern die Kinder nicht gleich behandeln – in der Erziehung, beim Taschengeld oder den Weihnachtsgeschenken und vor allem im Testament –, dann wirft das tiefe Konflikte auf. Denn an der Gleichbehandlung messen wir die Liebe der Eltern, und eine Schlechterbehandlung im Vergleich zu den Geschwistern kann nur eines bedeuten: Die Eltern lieben die anderen mehr als mich!

Das Vergleichen endet aber keinesfalls an den Grenzen der eigenen Familie. Auch in der Gesellschaft vergleichen wir uns ständig mit anderen. Ich denke an Krankenhausaufenthalte. Kaum einen Satz höre ich bei Besuchen im Krankenhaus so oft wie diesen: „Wenn ich sehe, wie vielen es hier noch viel schlechter geht als mir, dann kann ich ganz dankbar und zufrieden sein.“ Die zweite Satzhälfte zu hören freut mich natürlich – aber geht das wirklich nur auf der Grundlage des Vergleichs mit anderen Menschen? Mitunter ist es ja so, dass jemand – zurecht oder zu Unrecht – den Eindruck hat, es gehe niemandem anderen so schlecht wie ihm oder ihr. Und dann ist der Zufriedenheit jeder Weg verbaut.

Paradoxerweise können wir das Vergleichen sogar in Statistiken ablesen. Die Suizidhäufigkeit sinkt in Krisenzeiten wie der gegenwärtigen erheblich. Dafür hat die Suizidforschung nur eine Erklärung: In einer Krise geht es allen oder wenigstens fast allen gleich schlecht. Die, denen es sonst auch schlecht geht, können dann auf niemanden mehr schauen, dem es viel besser geht. Sie können sich nicht benachteiligt fühlen – und schon geht es ihnen viel, viel besser.

Die Kirche hat das Vergleichen jahrhundertelang pauschal als „Neid“ gebrandmarkt und unter die sieben Kapitallaster (manchmal fälschlich „Hauptsünden“ genannt) gerechnet. In dieser Pauschalität ist das allerdings nicht gerechtfertigt. „Neid“ kann sich nur auf ganz bestimmte Fälle des Vergleichens beziehen. Fälle, in denen uns das Vergleichen das Leben vermiest anstatt uns zu helfen. Fälle, in denen das Vergleichen die Seele krank macht. Aber wann macht das Vergleichen krank und wann nicht? Um das zu klären, müssen wir uns fragen: Warum vergleichen wir eigentlich ständig, wenn das doch offensichtlich sehr große Nachteile hat? Die Evolutionsbiologie liefert uns dazu hilfreiche Erkenntnisse. Denn das Vergleichen ist evolutionär tief in unserem genetischen Programm verankert. Hunde beispielsweise kooperieren gerne mit Menschen – auch wenn sie dafür keine Belohnung bekommen. Das Kooperieren macht ihnen einfach Freude. Allerdings gibt es eine Bedingung: Wenn mehrere Hunde mit einem Menschen kooperieren, erwarten sie absolute Gleichbehandlung. Bekommt am Ende einer Aktion der eine Hund eine Belohnung und der andere nicht, dann zieht sich der Benachteiligte für Tage zurück und will weder mit dem Menschen noch mit dem anderen Hund etwas zu tun haben. Er ist stocksauer.

Ich denke, jedeR von uns kann den stocksauren Hund gut verstehen. Denn hier geht es um Gerechtigkeit. Hunde haben wie alle sozial lebenden Tiere einen starken Gerechtigkeitssinn. Der sorgt dafür, dass im Rudel kein Individuum ungebührlich benachteiligt wird, dass den Schwachen geholfen wird, dass die Nahrung miteinander geteilt wird. Nicht immer haben die sozial lebenden Tiere dieselbe Gerechtigkeitsvorstellung wie wir Menschen, aber sie haben eine. Und wer die Führung eines Rudels übernehmen will, wird daran gemessen, ob er diese Gerechtigkeitsvorstellung akzeptiert und für ihre Durchsetzung sorgt. Zu den sozial lebenden Lebewesen gehört auch der homo sapiens. Er ist, wie die alten Griechen sagten, ein Zoon politikon, ein politisches, gesellschaftliches Lebewesen. Und deswegen achtet er sehr auf Gerechtigkeit.

Positiv dient das Vergleichen also der Bestimmung und Durchsetzung von Gerechtigkeit. Es ist evolutionsbiologisch unverzichtbar, wenn wir in Gemeinschaft leben wollen. Und wenn es ungerecht zugeht, dann ist es absolut richtig, wütend zu werden, anzuklagen, zu protestieren, um Gerechtigkeit herzustellen. Würden wir nicht ständig vergleichen, ginge es zwischen den Menschen (noch) viel ungerechter zu.

Das Problem ist aber: Gerechtigkeit lässt sich nur dort fordern, wo Menschen etwas ändern können. Doch es gibt Dinge im Leben, die nicht von Menschen gemacht sind: Der eine ist intelligent, der andere nicht; der eine ist körperlich sportlich und leistungsfähig, der andere nicht; der eine ist hochgewachsen, der andere klein; der eine ist Mann, die andere eine Frau; der eine ist körperlich und geistig gesund, der andere schwerbehindert. An diesen Fakten können wir nichts ändern. Wir können aber dafür sorgen, dass der weniger intelligente auch mit einem Bankomaten oder einem Fahrkartenautomaten zurechtkommt; dass Menschen mit Behinderung möglichst wenige Barrieren in den Weg gelegt werden usw. Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang der Versuch, die Ungleichheiten der Biologie abzumildern, wo immer wir das können.

Allerdings lässt sich nicht alles ausgleichen. Unsere menschlichen Möglichkeiten sind begrenzt. Und daher müssen wir anerkennen, dass es Menschen gibt, denen es von Natur aus besser geht als uns. Wir können schlecht erwarten, dass sich die Gesunden selbst verstümmeln, nur um den Schwerkranken gleich zu sein. Hier kommt die irdische Gerechtigkeit an eine Grenze. Und genau da setzt der Glaube an Gott an. Einerseits kann den von der Natur Benachteiligten das Klagegebet helfen: Gott hat ihnen die Benachteiligung eingebrockt – ihm dürfen sie ihr Leid klagen und ihn auch mit ihrer Wut überhäufen. Er hält das aus! Andererseits hoffen wir auf eine höhere, göttliche Gerechtigkeit beim Jüngsten Gericht. Dieser Glaube, den wir im Glaubensbekenntnis bekennen („zu richten die Lebenden und die Toten“), besagt ja letztendlich: Wir sind überzeugt, dass es in den Augen Gottes einen Wert hat, wenn wir unsere Mühen und Beschwernisse des Lebens tragen. Es ist nicht umsonst. ER sieht es und schätzt es! Und er geht mit, leidet mit, trägt mit.

Genau hier liegt also die große Kunst: Dort zu vergleichen, wo etwas für Menschen veränderbar ist, Ungerechtigkeiten anzuprangern und für ihre Beseitigung einzutreten. Und dort nicht zu vergleichen, wo etwas für Menschen nicht veränderbar ist, sondern es mit Geduld und wenn nötig auch mit Klage vor Gott (aber eben nicht vor den Menschen) zu ertragen.

Ich schließe mit einem Gebet des deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr (1892-1971), das sicher manche kennen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Aus der Einsiedelei grüßt herzlich

Michael Rosenberger