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Pilgern durch die Coronakrise - 17. März 2021

Liebe Menschen auf der Pilgerschaft,
 
die Nerven liegen blank. Das konnte man in Österreich am vergangenen Wochenende erleben, als der Bundeskanzler in einer Art „Wutanfall“ dafür sorgte, dass einem hohen Beamten im Gesundheitsministerium die Verantwortung für das Impfmanagement weggenommen wurde – wegen Kleinigkeiten, die in normalen Zeiten nicht einmal ein Räuspern ausgelöst hätten. Aber der Kanzler brauchte einen Sündenbock – und hat ihn fürs Erste gefunden. Die Nerven liegen blank – so deute ich auch das Aussetzen der Impfungen mit Astra Zeneca in vielen europäischen Ländern (vorerst nicht in Österreich!). Denn die Datenlage zeigt eigentlich kein signifikant erhöhtes Risiko für gesundheitliche Schädigungen durch die Impfung. Und jeder Tag, an dem auf Impfungen verzichtet wird, kostet mit Sicherheit viele zusätzliche Menschenleben. Ich fürchte, dass nun rein auf einen Verdacht hin das Image eines guten Impfstoffs so nachhaltig beschädigt ist, dass es uns in der Virusbekämpfung weit zurückwirft. Aber eben: Die Nerven liegen blank – im Volk genauso wie bei den PolitikerInnen. Wir handeln alle nicht mehr ruhig und überlegt.
 
Um aus dieser Hypernervosität herauszukommen, kann es helfen, die eigenen Sinne gezielt zu schulen und mehr auf das zu achten, was wir sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. Gerade der jetzt beginnende Frühling ist eine optimale Zeit dafür. Die folgenden Gedanken sind ein kleiner Auszug aus meinem neuen Buch „Was der Seele Leben gibt“ (Echter Verlag 2021). Ich empfehle sie allen für die Tage auf Ostern zu.
 
„Sehen! Auf dieser Erde sehen! – Wie könnte man diese Lehre vergessen? Bei den Eleusinischen Mysterien genügte es, nach innen zu schauen. Ich aber weiß hier und jetzt, dass ich nie nahe genug an die Dinge der Welt herankommen werde. Nackt muss ich sein und muss dann, mit allen Gerüchen der Erde behaftet, ins Meer tauchen, mich reinigen in seinem Salzwasser und auf meiner Haut die Umarmung von Meer und Erde empfinden, nach der beide so lange schon verlangen... Zurückgekehrt an den Strand, werfe ich mich in den Sand, gebe mich der Erde hin, fühle aufs Neue das Gewicht meines Fleisches und meiner Knochen…“ (Albert Camus 2013, Hochzeit des Lichts, 13)
 
Mit diesen Worten, die zu den schönsten seines großen literarischen Werks gehören, schildert Albert Camus (1913 – 1960) seine Methode der Meditation: Er geht an den algerischen Strand, entkleidet sich und springt ins Wasser. Auf seiner gesamten Körperoberfläche spürt er das Wasser, und später, wieder am Strand, die Erde und den Sand. Es ist eine Meditation mit allen Sinnen, die in die vielfältigen Reize der Natur eintauchen und darin gedankenverloren versinken. Ganz hingegeben, ganz aufmerksam. Für Camus ist das eine säkulare Form der Religiosität: „Wer in Tipasa sagt ‚ich sehe‘, sagt auch ‚ich glaube‘; und warum sollte ich verleugnen, was meine Hände berühren und meine Lippen liebkosen können!“ (Albert Camus 2013,16)
 
Diese „Meditation ohne Gott“, aber mit allen Sinnen, führt Camus zu einer ungeahnten Verbundenheit mit allem Seienden: „Meer, Land, Stille und die Gerüche dieser Erde – ich trank ihren Duft und ihren Atem und biss in die goldene Frucht der Welt und fühlte erschauernd ihren starken süßen Duft mir über die Lippen laufen. Nein, ich zählte nicht, noch die Welt; nur die schweigsame Eintracht unserer Liebe galt.“ (Albert Camus 2013,18) Und er schließt: „Nie habe ich in einem solchen Maße beides zugleich, meine eigene Auflösung und mein Vorhandensein in der Welt, empfunden.“ (Albert Camus 2013,23)
Zur Spiritualität gehört ein ganzheitliches „Spüren und Verkosten der Dinge von innen her“ (Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 2), so dass in ihnen und durch sie hindurch das Geheimnis des Lebens erahnt und berührt werden kann. Ignatius von Loyola (1491 Loyola – 1556 Rom) nennt diese Form der Betrachtung gleichbedeutend Kontemplation und Meditation. Um sie zu beginnen, braucht es den „Aufbau des Schau-platzes“ (Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 47; 49). Dabei geht es um die vorbereitende Herstellung eines Wahrnehmungsraumes für alle fünf Sinne. Dieser Wahrnehmungsraum kann ein realer sein, etwa wenn eine biblische Erzählung oder eine Begebenheit aus dem eigenen Leben betrachtet wird. Doch auch wenn es um die Betrachtung abstrakter Wirklichkeiten wie des Bösen oder der Sünde an sich geht, muss der oder die Betrachtende sich einen „Schauplatz“ aufbauen – dann eben einen fiktionalen (Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 47).

Der „Aufbau des Schauplatzes“ dient dem Betrachtenden zur „Anwendung der Sinne“ (Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen Nr. 65-72; 121-126). Diese soll nach Ignatius dadurch intensiviert werden, dass die Sinne nicht gleichzeitig, sondern einzeln und nacheinander auf einen Betrachtungsgegenstand angewandt werden. Damit ist sichergestellt, dass die meditierende Person keinen der fünf Sinne übergeht. Sie soll mit all ihren geistigen Kräften und mit all ihrer Phantasie einmal nur sehen, dann nur hören, dann ausschließlich riechen, dann nur schmecken und schließlich nur tasten . So konzentriert sich die gesamte Aufmerksamkeit auf einen einzigen Sinn und kann seinen Wahrnehmungen viel mehr Beachtung schenken.
 
Die ignatianische Methode der „Anwendung der Sinne“ steht Camus‘ Meditation mit allen Sinnen sehr nahe. Der Unterschied liegt darin, dass Camus nur die realen Sinneswahrnehmungen reflektiert, während Ignatius reale ebenso wie virtuelle Sinneswahrnehmungen zur Meditation anbietet. Es ist großartig, die Meeresluft real und unmittelbar auf der eigenen Haut zu spüren, wie Camus das beschreibt. Aber es kann (fast) ebenso großartig sein, sich diese Sinneswahrnehmung beim Lesen von Camus‘ Buch vorzustellen und sie nachzuempfinden. Natürlich ist es schwer, sich in die Beschreibung Camus‘ hineinzuversetzen, wenn man noch nie am Meer war. Aber wenn man schon einmal real einen Tag am Strand zugebracht hat, muss die virtuelle Vorstellung daheim in den eigenen vier Wänden nicht unbedingt dahinter zurückbleiben. Sie kann die reale „Urerfahrung“ in der virtuellen Wiederholung verstärken und intensivieren. Und mitunter mag die virtuelle Sinneswahrnehmung sogar intensiver sein als die reale – weil ablenkende Sinneseindrücke im Medium bereits ausgeblendet sind und sich der erlebende Mensch ganz auf die gewünschten Eindrücke konzentrieren kann.
 
Das Programm einer Schulung der Sinne ist höchst anspruchsvoll. Es kann bedeuten, mit dem Geschmacks-sinn ein seltenes Gewürz aus einer Speise herauszuschmecken oder bei einer Blindverkostung die Rebsorte eines Weines zu erkennen. Es kann meinen, in einer riesigen Menschenmenge die Stimme seines eigenen Kindes zu hören oder in einem großen Orchester ein einzelnes Instrument. Es kann heißen, in einem dicht belaubten Baum den Vogel zu entdecken, der dort singt, oder in einem Gemälde ein winziges Detail wahrzunehmen. 
 
Die Schulung der Sinne ist einerseits eine Gabe. Denn wer keine guten Augen hat, wird schnell an Grenzen seines Sehsinns stoßen. Und wer auf Grund organischer Mängel schlecht hört, kann viele Geräusche und Stimmen nicht wahrnehmen. Mit zunehmendem Alter nimmt die Kraft der Sinne ab – bis hin zum Geschmacksinn, der bei alten Menschen oft nur noch auf süße Geschmacksrichtungen reagiert. Aber die Schulung der Sinne ist auch eine Aufgabe. Im Kindes- und Jugendalter erweitern sich die Möglichkeiten der Sinneswahrnehmung rasend schnell – nicht weil die Sinnesorgane besser würden, sondern weil das Gehirn die eingehenden Informationen differenzierter und präziser verarbeiten lernt. Und Menschen, bei denen ein Sinnesorgan zerstört ist, können oft einen Großteil von dessen Leistung durch die größere Aufmerksamkeit auf die anderen Sinnesorgane kompensieren. Erblindete „sehen“ einen Raum durch die ungeheuer präzise Wahrnehmung von Geräuschen und Luftbewegungen. Taub Gewordene „hören“ die Geräusche der fahrenden Autos, die sie sehen, oder die Musik einer Partitur, die sie lesen. Sinneswahrnehmungen spielen sich zu einem großen Teil im Gehirn ab.
 
Anleitung zur Einübung der Sinne 
 
Draußen in der Natur: Schau in die Natur und entdecke all ihre Farben und Formen – der Landschaft, der einzelnen Pflanzen, der Tiere. Schließe zwischendurch immer wieder die Augen und schau beim Öffnen noch genauer hin. Höre auf die vielfältigen Geräusche in der Natur – das Singen der Vögel, das Rauschen der Bäume, das Plätschern eines Bachs, die Stille. Rieche die vielfältigen Düfte in der Natur – das Harz oder die Rinde der Bäume, den betörenden Duft der Blumen, den Geruch feuchter Erde. Schmecke den Salzgeh-alt der Luft am Meer, den Geschmack wilder oder kultivierter Früchte, die Frische klaren Quellwassers. Taste die Berührungen deines Körpers durch die Natur – die Rinde eines Baumes mit den Händen, das Wehen des Windes im Gesicht, den weichen Boden einer Wiese oder eines Sandstrands unter den Füßen.
 
Zuhause an einem guten Ort zur Meditation: Schau auf ein Bild, das dir heilig ist, oder auf eine brennende Kerze. Höre meditative Musik oder den eigenen Gesang, eine Klangschale oder eine Glocke. Rieche den Duft des Weihrauchs oder einer Duftkerze. Schmecke eine einfache Speise, die du in Stille und mit Andacht verzehrst, oder, wenn du einen Zugang zur südeuropäischen Mentalität hast, den Kuss eines dir heiligen Buchs oder Bilds. Taste die Berührung eines Mitmenschen, der dir die Hände auf den Kopf legt oder deine Hand-flächen mit einem guten Öl salbt, oder erspüre mit geschlossenen Augen deine nach oben geöffneten Hände, die bereit sind zu empfangen.
 
Zuhause bei der Lektüre eines dir heiligen Textes: Versuche, dir die Erzählung mit allen Sinnen und all deiner Phantasie so intensiv wie möglich vorzustellen. Gehe dabei die fünf Sinne einzeln und nacheinander durch. Wo die Erzählung dir für einen Sinn keine Anhaltspunkte liefert, kannst du frei jene Eindrücke assoziieren, die dir plausibel erscheinen.
 
Ich wünsche gute Erfahrungen mit dieser Übung und grüße Sie/ euch herzlich,
 
Michael Rosenberger