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Pilgern durch die Coronakrise - 20. Januar 2021

Liebe mehr oder weniger sangesbegeisterten PilgerInnen, 
 
es war ja zu erwarten, dass der Lockdown verlängert und verschärft werden würde – die Zahlen sind nach wie vor viel zu hoch, insbesondere angesichts der neuen Mutationen, und fallen zu langsam. Und doch spürt man mittlerweile auch bei den Mitgliedern der Regierung, dass sie unheimlich „schüchtern“ geworden sind. Sie trauen sich die schlechte Botschaft kaum zu überbringen, obwohl sie wissen, dass diese unumgänglich ist. Sie wissen, dass die Menschen stöhnen werden, selbst die, die die Unumgänglichkeit der Maßnahmen einsehen. Ja, es wird uns auf den letzten Etappen bis zur breit bestreuten Impfung noch einmal das Maximum abverlangt. Da kann es guttun, zwischendurch einmal Musik zu hören oder selbst zu machen, vor allem aber zu singen.
 
Aus Weyersfeld schrieb mir die Organistin, dass die Leute in der Christmette das „Stille Nacht“ trotz offiziellen Verbots ganz leise mitgesungen hätten – sie konnten einfach nicht stumm bleiben. Und das leise Singen sei inniger gewesen als das laute Schmettern all die Jahre zuvor. Einigen anderen von euch/ Ihnen ist es, wie ihr mir berichtet habt/ Sie mir berichtet haben, auch so ergangen wie den Weyersfeldern. Kaum etwas rührt uns an Weihnachten so sehr an wie die Lieder. Und kaum etwas ist so schlimm wie das gegenwärtige Verbot, im Gottesdienst zu singen.
 
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang ganz an den Anfang der Pandemie zurück. Da haben die ItalienerInnen sich abends auf ihre Balkone gestellt und miteinander traditionelle Lieder gesungen. Das hat ihnen die harte Ausgangsbeschränkung erträglicher gemacht und sie miteinander verbunden – straßenweise, städteweise, ja in der ganzen Nation, die sonst zwischen Nord und Süd so gespalten ist.
Die Musik fehlt uns mehr als fast alles andere. Wir Menschen drücken einfach extrem viel durch Musik aus. Vieles davon können wir gar nicht in Worte fassen. Für Musik gibt es keinen angemessenen Ersatz. Und deswegen fehlt sie uns momentan so schmerzlich. Vor allem in Form des Gesangs: In den zahllosen Chören, in den Opernhäusern, in der Kirche.  
 
„Wer singt, betet doppelt“. Dieser berühmte Satz wird, wie viele andere, Aurelius Augustinus zugeschrieben, ist aber in seinem gesamten Werk nicht auffindbar. Vermutlich handelt es sich um ein altes Sprichwort. Aber auch wenn kein Kirchenlehrer für seine Richtigkeit bürgen kann, enthält es eine tiefe Wahrheit. Musik ist urmenschlich und unverzichtbar für das Menschsein. In allen Kulturen ist sie fester Bestandteil der Feste und der Religion. Auch im alttestamentlichen Israel und erst recht in der frühen Kirche waren Singen und Musizieren wichtige Ausdrucksformen des Glaubens.
 
Musik wirkt mehr über Emotionen als über den Verstand. Sie rührt Tiefenschichten des menschlichen Empfindens an, an die der Verstand nie herankommt. Gefühle aber sind, so sagen GehirnforscherInnen, besonders für das Anzeigen und Speichern von Bedeutungen wichtig. Sie weisen auf besonders wichtige Erfahrungen hin und zeigen ihre Relevanz auf. Genau das tut Musik: Sie hebt Wichtiges hervor und interpretiert es – ein Fest, eine berührende Begegnung, eine existenzielle Erfahrung.
 
Zudem besitzt Musik eine viel größere Fülle des Ausdrucks als das gesprochene Wort: Melodien und Rhythmen, Lautstärken und Klangfarben – das gesprochene Wort wäre armselig, wenn ihm nicht die Musik zur Seite spränge und es untermalen würde. Ein Gesang kann auch das ausdrücken, was der Kopf nicht versteht, betont Augustinus in seinem Kommentar zu Psalm 99. Wie könnte man etwa ein „Halleluja“ nur sprechen? Es verlangt geradezu danach, gesungen zu werden, um die Osterfreude glaubwürdig zu äußern. 
 
Schließlich übt Musik auf den Menschen eine verwandelnde Kraft aus. Sie verbindet jene, die miteinander ein Musikstück hören oder singen; sie hebt die Stimmung selbst in Situationen der Trauer, schenkt Trost und Hoffnung; sie „bezaubert“. Augustinus meint in seinen Bekenntnissen, dass durch ein gesungenes Gebet die Herzen frömmer und inniger zur Andacht hingezogen werden als beim reinen Wortgebet.
 
Die gute Nachricht ist, dass die Zeit für das Musizieren wieder kommen wird. Ab Herbst dürfte es halbwegs normal möglich sein. Wir werden das neu zu schätzen wissen. Vielleicht auch bewusster als zuvor entscheiden, ob oder dass wir in einem Chor mitsingen. Und bis dahin helfen uns die vielen elektronischen Möglichkeiten. Ich singe derzeit viele Audios und Musikvideos, die ich bekomme, aktiv mit. Das ist ja auch eine Möglichkeit, damit die Gefühle aus dem Inneren heraus können.
 
Ich lade ein, sich einmal folgende Fragen zu stellen: Welche Lieder oder Musikstücke berühren mich ganz besonders? Woran erinnern sie mich und welche Gefühle rufen sie in mir hervor? Wo habe ich in den Monaten der Pandemie das Singen oder Musizieren am schmerzlichsten vermisst? Habe ich mir zuhause oder draußen an der frischen Luft Möglichkeiten geschaffen, um für mich oder gar für andere zu singen? Und wenn nicht, sollte ich das in den nächsten Monaten tun?
 
Ich schließe mit einem meiner Lieblingslieder von Reinhard Mey: Welch ein Geschenk ist ein Lied (CD Freundliche Gesichter, 1981). Wer mag, kann es sich hier anhören: www.youtube.com/watch;
 
Schon wenn der erste Ton erklingt
Beginnt der Raum zu atmen und zu leben
Ist es wie ein Erschauern, wie ein Schweben
Als ob ein Zauber uns bezwingt
Und eine Melodie befreit
Uns aus dem Irrgarten unsrer Gedanken
Und öffnet alle Schleusen, alle Schranken
Unserer Seele weit
Und löst uns los von Raum und Zeit
Und aus der engen Dunkelheit
Tragen die Töne ein Gedicht
Auf bunten Flügeln in das Licht
Ein Schwarm von Schmetterlingen, der zur Sonne flieht
Welch ein Geschenk ist ein Lied!
 
Betrübt, lässt es uns glücklich sein
Doch glücklich, kann es uns zu Tränen rühren
Und es lässt uns in unsrem Hochmut spüren
Wie ohnmächtig wir sind und klein!
Wo Worte hilflos untergeh'n
Vermag ein Lied allein ein Kind zu trösten
All seine dunklen Ängste und den größten
Kummer gleich fortzuweh'n
Denn alles, was sich in uns regt
Jedes Gefühl, das uns bewegt
Jede Hoffnung, die uns erfüllt
Hat ein getreues Spiegelbild
Im Fluss der Töne, der stets wechselnd weiterzieht
Welch ein Geschenk ist ein Lied!
 
Mit besten Grüßen
 
Michael Rosenberger