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Pilgern durch die Coronakrise - 22. Januar 2022

Liebe Pilgernden mitten in der Omikron-Welle, 

noch ist die Omikron-Welle bei uns gar nicht auf ihrem Höhepunkt angekommen, da melden sich Länder wie Spanien und Großbritannien zu Wort und wollen, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO die Pandemie zu einer Endemie herunterstuft. In Spanien mit fast 90 Prozent Impfquote könnte das auch gutgehen. Aber weltweit sind wir noch meilenweit von diesem Stadium entfernt. Geduld und Besonnenheit sind gefragt. Schließlich erinnern wir uns noch alle gut daran, dass der britische Premier Boris Johnson schon einmal den Liberation Day, den Tag der Befreiung vom Virus verkündet hatte – nur um wenig später wieder zurückrudern zu müssen.

In den letzten Tagen hat uns die Veröffentlichung des Gutachtens über das Verhalten der Verantwortlichen in der Erzdiözese München und Freising erschüttert und umgetrieben. Es ist erschreckend und beschämend, wie sich die Kirchenoberen über Jahrzehnte in der Frage des sexuellen Missbrauchs durch Kirchenpersonal verhalten haben. Das Gutachten ist aber nicht nur deshalb exzellent, weil es alle noch irgendwie greifbaren Fälle facettenreich und sensibel aufarbeitet, sondern auch, weil es die systemischen Ursachen des Verschweigens und Vertuschens durch die Kirchenoberen sehr genau analysiert.

In den nächsten Rundbriefen werde ich einige der Aspekte aufgreifen und aus theologischer Perspektive reflektieren. Angesichts der Einführung der gesetzlichen Impfpflicht in Österreich in dieser Woche möchte ich heute allerdings ein wichtiges Thema der Corona-Debatten aufgreifen und diskutieren: Warum geht der Riss zwischen Geimpften und Ungeimpften, den wir mindestens seit dem Herbst letzten Jahres erleben, eigentlich so tief? Warum können sich Menschen aus den beiden Gruppen kaum noch begegnen, ohne dass Verkrampftheit, Misstrauen, Unterkühlung und mitunter Aggression und Feindseligkeit zu spüren sind? Warum empfinden wir also den „Vaccination Divide“, oder kurz vielleicht auch „Vac Divide“, so intensiv?

Zunächst einmal lohnt der Blick in die Vergangenheit. Es gab auch in früheren Jahrhunderten binäre Codes, also Trennlinien zwischen „ja“ oder „nein“ in einer bestimmten Frage, die Gesellschaften in zwei Teile teilten. Oft waren sie religiös konnotiert: Getauft oder nicht getauft entschied zum Beispiel über ein anständiges Begräbnis auf dem örtlichen Friedhof, verheiratet oder nicht verheiratet noch bis in die 1960er Jahre über die Vermietung einer Wohnung oder das Beziehen eines Doppelzimmers im Hotel. Diese Divides (ich nenne sie einmal Baptism Divide und Marriage Divide) haben wir überwunden, und viele werden sich gar nicht mehr daran erinnern können, wie streng sie damals durchgezogen wurden.

Der „Digital Divide“ hingegen, der ungefähr seit dem Jahr 2000 diejenigen voneinander trennte, die mit digitalen Geräten umgehen konnten bzw. nicht umgehen konnten, hat sich mittlerweile fast von selbst erledigt. Auch 80jährige bedienen heutzutage halbwegs entspannt ein Smartphone oder einen Laptop. Die Zahl der Omas und Opas, die auf Facebook oder Whatsapp mit ihren Enkeln konferieren, ist riesig. Konsequente Digital-Verweigerer gibt es kaum noch, und die lassen sich im Notfall von ihren Familienangehörigen helfen. Computerkurse an den Volkshochschulen, wie sie zu Beginn der 2000er Jahre speziell für ältere Menschen angeboten wurden, sind fast völlig von der Bildfläche verschwunden, weil es dafür keinen Bedarf mehr gibt.

Dafür nun also der „Vac Divide“ zwischen Geimpften und Ungeimpften. Er hat sich im Laufe des vergangenen Jahres schrittweise immer mehr vertieft, und das nicht nur, aber natürlich auch durch die Pandemie-Gesetzgebung. 2-G ist das Zauberwort: Geimpft oder Genesen, ansonsten hast du keinen Zutritt! So berechtigt 2-G (oder sogar 2-G-plus) derzeit zur Teilnahme an Vielem, was allen, die keinen 2-G-Nachweis haben, verwehrt ist: Zum Betreten von Gaststätten, Konzerten, Kulturveranstaltungen, zu Einkäufen im nicht lebensnotwendigen Bereich… Sogar bei vielen privaten Feiern zuhause wird von den Einladenden zunehmend 2-G verlangt – aus sehr verständlichen Gründen. Selbst in Omikron-Zeiten hat die (Booster-)Impfung eine enorme Auswirkung auf die Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus oder in der Intensivstation zu landen. Die Impfung ist noch vor der FFP-2-Maske das wirksamste Mittel in der Pandemie – und wirkt auch dort, wo man die Maske ablegen muss, also im Restaurant oder beim Zahnarzt.

So nachvollziehbar die größeren Freiheiten der Geimpften und die größeren Einschränkungen für die Ungeimpften also sind, so folgenreich ist der Vac Divide dennoch. Selten hatte ein Divide so weitreichende und breitflächige Folgen. Der Baptism Divide hatte die wichtigsten Folgen überhaupt erst, wenn man selber schon gestorben war. Der Marriage Divide hatte Folgen für das Wohnen – schwerwiegend, aber rein auf den Privatbereich bezogen. Der Vac Divide hingegen betrifft privaten und öffentlichen Bereich gleichermaßen, und das tagtäglich. Das spüren wir alle, und es geht uns an die Nieren, egal auf welcher Seite des Grabens wir stehen.

Wie schwerwiegend der Divide ist, wurde mir neulich klar, als ich in der ZEIT ein Interview mit dem Betreiber eines Online-Dating-Portals las. Der sagte, dass sehr viele Menschen, die derzeit auf seinem Portal daten, in der allerersten Selbstvorstellung ungefragt und gleich nach ihrem Beruf, ihrem Alter und ihrem Wohnort ihren Impfstatus angeben. Da geht es offenkundig nicht darum, dass man je nach Impfstatus überlegt, wo und wie man sich das erste Mal real trifft, sondern ob man sich mit der betreffenden Person überhaupt treffen will. Der Impfstatus zeigt offenbar an, ob eine Übereinstimmung in einigen wichtigen Grundanschauungen gegeben ist. Darum diskutieren wir über das Impfen so leidenschaftlich. Darum sind die Positionen so schwer versöhnlich. Geimpfte und Ungeimpfte sehen die Welt in entscheidenden Punkten anders.

Wohlgemerkt: Ich spreche hier nicht von GegnerInnen und BefürworterInnen der Covid-Hygiene-Regeln und auch nicht von GegnerInnen und BefürworterInnen einer allgemeinen Impfpflicht. Es geht hier um jene, die die Impfung bejahen und sich impfen lassen, und jene, die die Impfung für sich persönlich ablehnen. Es geht also um die ganz persönliche und private Einstellung zum Impfen – nicht mehr!

Natürlich sind die beiden Gruppen der Ungeimpften und der Geimpften in sich sehr plural und heterogen. So gibt es unter den Ungeimpften EsoterikerInnen, NaturromantikerInnen, politische Rechte, religiöse FundamentalistInnen und viele andere. Und bei den Geimpften ist es nicht anders. Es eint sie weit weniger als die AnhängerInnen einer politischen Partei oder einer Religion. Aber ein paar grundsätzliche Anschauungen sind dennoch den meisten innerhalb einer der beiden Gruppen gemeinsam:

  • Im Verhältnis zur Naturwissenschaft, Medizin und Pharmazie: Die einen haben ein tiefes, grundlegendes Misstrauen in die Schulmedizin und neigen zu „natürlichen“ und „alternativen“ Heilmethoden. Die anderen haben in die moderne Medizin Vertrauen, neigen aber vielleicht zu stark dazu, für jedes Wehwehchen sofort eine Pille zu schlucken.
  • Im Verhältnis zur Regierung und den Regierenden: Die einen haben den Eindruck, dass der Staat ziemlich korrupt ist und dass es den PolitikerInnen nur um den eigenen Machterhalt geht. Die anderen sprechen der Politik bei allen Missständen doch auch eine gewisse Seriosität und Vernünftigkeit zu.
  • Im Verhältnis zum Rationalen und zum Nicht-Rationalen, zum Erklärbaren und zum „Mystischen“: Den einen erscheint die moderne Welt viel zu rational, zu kalt, zu berechnend und womöglich auch zu entzaubert. Die anderen begeistern sich für die Möglichkeiten von Naturwissenschaft und Technik, verlieren dabei aber vielleicht den Bezug zu dem Geheimnisvollen, Unsagbaren, dem Wunder des Lebens.
  • Im Verhältnis zur gegenwärtigen geschichtlichen Epoche der (Post-)Moderne: Die einen kommen mit der Moderne schwer zurecht und fühlen sich in den Entwicklungen unserer Zeit unwohl, vielleicht sogar heimatlos. Die anderen haben sich mit der (Post-)Moderne arrangiert, übersehen dabei aber vielleicht deren Schattenseiten und geben sich kritiklos zufrieden.

Ich hoffe es ist zu merken, dass ich auf ein sehr tiefliegendes Problem der Moderne hinweisen möchte, für das diese noch keine gute Lösung gefunden hat: Ein freundschaftliches Verhältnis zu den Gefühlen, dem Romantischen, dem Geheimnisvollen,… und letztlich auch dem Göttlichen! In dieser Hinsicht trägt die Moderne eine Erblast, die mindestens 2500 Jahre alt ist. Sie wurzelt in der griechischen Philosophie der Antike. Das Christentum hat sie unkritisch aufgenommen, sobald sein Nährboden nicht mehr das Palästina Jesu von Nazaret war, sondern die hellenistische Kultur des römischen Weltreichs. Und heute, da das Christentum in Europa seinen Niedergang erlebt, wirkt der griechische Rationalismus eben in der säkularen Gesellschaft weiter. Letztlich ist das seine logische Konsequenz. Denn erst eine säkulare Gesellschaft ist wirklich rational.

Die alten Griechen hatten ein abgrundtiefes Misstrauen gegenüber den Gefühlen. Die waren ja nicht beherrschbar, nicht steuerbar. Da verloren Menschen die Kontrolle über sich selbst. Und woher die Gefühle kamen? Jedenfalls von außen, verursacht von etwas Fremdem, Unheimlichem. Die Lösung war und ist bis heute: Die Vernunft soll die Kontrolle über die Gefühle übernehmen, gleichsam als deren Steuerfrau, sie soll die Hegemonin sein, wie die Griechen sagten.

In gewisser Weise erleben wir heute die Perfektionierung der Rationalität und der Rationalisierung. Im öffentlichen Leben und erst recht in der Wirtschaft ist für Gefühle kaum mehr Raum. Genau das kritisiert Papst Franziskus, wenn er in seiner Enzyklika Laudato si vom „technokratischen Paradigma“ spricht. Die EntscheidungsträgerInnen versuchen, sämtliche großen Probleme der Welt rational zu lösen, technokratisch. Aber die Seele der Menschen bleibt dabei schnell auf der Strecke.

Das also ist aus meiner Sicht das berechtigte Anliegen der Ungeimpften, das sie allerdings selten so in Worte fassen: „Bitte versucht die Pandemie nicht einfach technokratisch weg zu managen! Bitte schaut auch auf unsere Seele! Bitte lasst unsere Seelen nachkommen!“

Dieses Anliegen kann aber natürlich nicht heißen, den Gefühlen vor der Vernunft Vorfahrt zu geben und die Vernunft über Bord zu werfen. Vielmehr muss die Lösung eine kluge Verbindung beider anzielen, getreu dem abgewandelten Motto Jesu: „Gebt der Vernunft, was der Vernunft gebührt, und den Gefühlen, was den Gefühlen gebührt!“

Der Vernunft gebührt die Einhaltung der Hygiene-Regeln, selbst in emotionaleren Settings wie Gottesdiensten oder privaten Festen. Der Vernunft gebührt das Kooperieren der MitarbeiterInnen im Handel, in der Gastronomie und auch in den Kirchen, wenn sie Kontrollpflichten auferlegt bekommen. Der Vernunft gebührt auch und nicht zuletzt die Impfung.

Und was gebührt den Gefühlen? Das scheint mir die viel schwerer zu beantwortende Frage. Denn in 2500 Jahren Rationalismus haben wir in Europa weitgehend verlernt, was den Gefühlen gebührt. Da und dort ist es in der Pandemie durchgebrochen und aufgeblitzt. Aber wir sind, um es mit dem großen Philosophen Jürgen Habermas zu sagen, fast alle „religiös unmusikalisch“. Und der hat den Begriff von Max Weber, dem Begründer der deutschsprachigen Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die religiöse Unmusikalität ist also nichts Neues – sie prägt Europa seit Sokrates (und noch früher). Doch erst in der Gegenwart hat sie ihre Perfektion gefunden, an der die Kirchen ohne es zu ahnen kräftig mitgewirkt haben.

Manchmal in dieser Pandemie ist die „religiöse“ Musik aufgeblitzt, gerade zu Beginn: Als komplette italienische Städte auf den Balkonen standen und gemeinsam sangen. Als wir am Abend den Pflegekräften applaudierten. Als Kliniken den an Corona Sterbenden eine letzte Begegnung mit einem ihrer Angehörigen ermöglichten. Als jeden Abend um 8 Uhr die Glocken läuteten und zum Innehalten einluden. – Aber der Raum für solche Formen der Nähe und Zuwendung ist klein – weniger wegen zu strenger Hygieneregeln als mehr wegen der Dominanz eines rational durchgetakteten Tagesablaufs. Und weil man ja Gefühle am besten gar nicht zeigt. Es sind weniger die sichtbaren, materiellen Barrieren als die unsichtbaren, ideellen Tabus, die unsere Gefühle einsperren.

Ich möchte ein sehr persönliches Beispiel erzählen, wie Vernunft und Gefühle zusammenfinden können, nicht aus der Zeit der Pandemie, aber von einer Intensivstation. Vor 22 Jahren ist meine Mutter auf einer solchen Intensivstation verstorben – an etlichen Apparaten hängend und künstlich beatmet. Das war medizinisch richtig und absolut vernünftig. Mein Vater, meine Geschwister und ich haben diese Intensivstation trotz aller Technik nicht als kalt und abweisend erlebt, sondern als einen Ort wundervoller Geborgenheit und liebevoller Fürsorge. Und das lag am Pflegepersonal. Sie haben alles getan, um uns den Abschied so „schön“ wie möglich zu gestalten. Das begann damit, dass jederzeit eine brennende Kerze auf dem Nachtkästchen stand und uns die Monitore dahinter vergessen ließ. Und es ging sogar soweit, dass einer von uns in dem freien Intensivbett neben unserer Mutter übernachten durfte. „Gebt der Vernunft, was der Vernunft gebührt, und den Gefühlen, was den Gefühlen gebührt!“ Das hat das Personal der Intensivstation damals auf großartige Weise erfahrbar gemacht.

Was wir aufgeklärten EuropäerInnen brauchen, ist eine Wertschätzung und eine Kultur der Gefühle. Wie sie entstehen kann, dafür gibt es in den spirituellen Traditionen unseres Kontinents genügend Anregungen. Sie sind bisher trotz 2000 Jahren Christentums nicht aus ihrer Nische herausgekommen. Denn die wenigsten ChristInnen, auch die wenigsten Priester und Bischöfe (!), haben sich ernsthaft um eine intensive und ganzheitliche Spiritualität bemüht. Doch die spirituellen Impulse der großen MeisterInnen sind da. Wir können sie nützen. Ihre Aneignung wird allerdings für Einzelpersonen Jahre und für die Gesamtgesellschaft Generationen dauern. Das geht nicht von heute auf morgen. Ob die Pandemie ein Anstoß sein könnte, den Aufbruch zu wagen?

Das fragt mit freundlichen Grüßen

Michael Rosenberger