Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

Pilgern durch die Coronakrise - 23. April 2020

Liebe PilgerInnen durch die Corona-Zeiten,

wenn man den Umfragen glauben darf, stimmen in Deutschland und Österreich zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung den von der Regierung angeordneten Maßnahmen zu. Das ist für politische Maßnahmen ein unglaublich hoher Wert, der im Normalbetrieb nie erreicht wird. Dennoch merkt man derzeit, dass die Einigkeit zu bröckeln beginnt. Das betrifft insbesondere den Zeitplan und die Schrittfolge des „Hochfahrens“ gesellschaftlicher Aktivitäten. Solange alle im Lockdown waren, konnte sich niemand benachteiligt fühlen. Jetzt aber beginnen wir uns mit anderen zu vergleichen und schreien auf, wenn wir uns benachteiligt fühlen. Ein solches Vergleichen und Aufschreien ist grundsätzlich nötig. Denn allein auf diesem Wege können wir gesellschaftlich aushandeln, was gerecht ist. Und natürlich hat Gerechtigkeit viele Perspektiven. Insofern ist es gut, dass in den Parlamenten wieder kontrovers diskutiert und gerungen wird. Die Einstimmigkeit der ersten Wochen war für diese Phase angemessen, kann aber unmöglich der Dauerzustand einer Demokratie sein.

In meinen nächsten Rundmails will ich einigen politischen Fragen auf den Grund gehen. Dabei geht es mir nicht um die Diskussion konkreter Einzelmaßnahmen – dafür bin ich kein Fachmann. Vielmehr möchte ich relativ grundsätzliche Überlegungen anstellen, die ich als Orientierungsrahmen für die Debatten um Einzelmaßnahmen für wichtig und hilfreich erachte. Sie können meines Erachtens helfen, dass wir zu deren vernünftiger und angemessener Einordnung kommen. Heute, in meinem ersten Beitrag dazu, soll es darum gehen, dass wir den Ton und den Anspruch moderat halten, weil wir alle in den vergangenen zwei Jahrzehnten „geschlafen“ haben, und dass wir uns über den Preis klar werden, den wir zahlen müssen, wenn wir wirklich vorankommen wollen.

Die VirologInnen haben seit vielen Jahren (und mit vermehrter Lautstärke seit der SARS-Epidemie 2002/2003) vor einer Pandemie mit tödlichen Folgen gewarnt. Immer und immer wieder. Doch haben wir alle nicht darauf gehört. Die Medien nicht, denn sie haben das Thema zwar ab und zu gebracht, aber immer im Kleingedruckten auf Seite 7 und nie auf den Titelseiten. Wir BürgerInnen nicht, denn wir haben es zwar in den Medien gelesen (ich auch, mehrfach, ich bekenne es ganz offen!), aber das Ausmaß nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Die Politik nicht, denn sie hat über das Szenario einer Pandemie nicht einmal diskutiert. Wie eine unangenehme Belästigung haben wir die Warnungen von uns weggeschoben. Alle.

Aber nehmen wir einmal an, Medien, Politik und Gesellschaft hätten über die Pandemie-Gefahr gesprochen und nach Lösungsansätzen gesucht, hätten sie diese dann auch umgesetzt? Bedenken wir, was diese Lösungsansätze gewesen wären: 1) Drastische Reduzierung der Fernreisen, denn ohne Fernreisen keine Pandemien. 2) Anerkennung der Textilbranche als systemrelevant, weil nur sie Schutzmasken herstellen kann, und Aufbau einer heimischen Textilindustrie (jenseits von Herrn Grupp und den Outdoor-Herstellern). Die Folge wäre eine drastische Verteuerung von Kleidung gewesen, und da reden wir von einer Verdoppelung der Preise als Untergrenze. 3) Anerkennung der Medikamentenherstellung als systemrelevant, weil wir derzeit viele Medikamente nicht mehr in der nötigen Menge aus den süd- und ostasiatischen Herstellerländern bekommen können. Die Folge wäre eine erhebliche Verteuerung der Medikamente gewesen, weil bei uns viel höhere Sozial- und Umweltstandards gelten. 4) Bereitstellung von mehr Intensivbetten und Beatmungsplätzen in den Krankenhäusern samt dem dazu nötigen Personal – nur für den Fall des Falles. Auch das wäre nicht zum Nulltarif zu haben. 5) Einführung eines überregionalen Koordinierungssystems der Bettenkapazitäten in den Krankenhäusern – das hätte diese und die Politik einen Machtverlust gekostet. 6) Und so weiter.

Spätestens an diesem Punkt erinnert mich die Vor-Corona-Zeit an die Klimaerwärmungs-Diskurse. Die Wissenschaft ist sich fast einstimmig einig, dass die Katastrophe kommen wird. Aber eben nicht morgen, sondern in ein paar Jahren oder Jahrzehnten. Die (westeuropäische) Öffentlichkeit weiß darum und glaubt es auch, ebenso die Politik. Doch geschehen ist von 1990 bis 2020 buchstäblich: Nichts. Die emittierte Treibhausgasmenge ist in Westeuropa incl. Westdeutschland praktisch gleich geblieben. In Osteuropa incl. Ostdeutschland ist sie gefallen – weil das Referenzjahr immer 1989 ist, also das Jahr des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime und ihrer noch umweltschädlicheren Industrien. Geschehen ist also trotz besten Wissens nichts – und das wäre auch bezüglich einer Pandemie so gewesen, wenn die VirologInnen so laut geschrien hätten wie die KlimaforscherInnen. Denn es hätte uns alle erhebliche Einbußen unseres Konsums und Lebensstandards gekostet. Und da stecken wir doch lieber den Kopf in den Sand und hoffen, dass es schon nicht so schlimm wird.

Das Problem im Blick auf die Pandemie sehen wir jetzt. Die Kosten zur Bewältigung der Krise werden um ein Vielfaches höher liegen als jene Kosten, die man bei rechtzeitigem Handeln zur Verhinderung der Pandemie gebraucht hätte. Wir alle haben es also mit zu verantworten, dass es jetzt verflixt teuer wird. – Bezogen auf die Klimakrise hat uns das im Jahr 2007 der „Stern-Report“ gesagt, in dem der frühere Chefökonom der Weltbank, Nicholas Stern, warnte: Mit jedem Jahr, das wir mit einschneidenden Klimaschutzmaßnahmen warten, werden diese teurer, weil wir unseren Verbrauch dann umso drastischer einschränken müssen. Stern berechnete die Kosten zur Vermeidung einer Tonne CO2 damals auf etwa 25 US-$, die Schäden im Falle von „business as usual“ hingegen auf 85 US-$ je Tonne CO2. Bei sofortigem Handeln im Jahr 2007 hätte der Klimaschutz laut Stern rund 1% des Weltsozialprodukts gekostet. Bei business as usual hingegen, und das haben wir bislang praktiziert, fällt das Weltsozialprodukt langfristig um ca. 20% niedriger aus. Der Treibhauseffekt gleicht also einer tickenden Bombe, die umso mehr Schaden anrichtet, je länger man sie ticken lässt.

Um aus der Vergangenheit zu lernen, müssen wir also zuerst dieses Hemmnis überwinden: Unser Streben nach immer mehr, das sich für Warnungen der Fachleute taub stellt. Und „wir“ meint wie in der Coronakrise wirklich „wir alle“. Es hilft nichts, wenn eine Regierung Maßnahmen ergreift, dann aber bei der nächsten Wahl abgewählt wird. Demokratie heißt nicht nur Mitbestimmung, sondern auch Mitverantwortung.

Auf die WissenschaftlerInnen zu hören – das ist seit eineinhalb Jahren die Botschaft der Fridays for Future. Das Coronavirus ist ein massiver Warnschuss, damit endlich ernst zu machen. Aber ohne die Bereitschaft, materielle Ansprüche zu beschränken, wird es nicht gehen.

In diesem Sinne bleibe ich mit nachdenklichen Grüßen

Michael Rosenberger