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Pilgern durch die Coronakrise - 24. Januar 2021

Liebe Pilgernden in bedrückenden Zeiten, 
 
der Wettlauf um eine Impfung nimmt derzeit teilweise bizarre Formen an. In Österreich lassen sich Bürgermeister impfen, die noch gar nicht an der Reihe wären, und geben damit ein maximal schlechtes Beispiel. Wir sind doch darauf angewiesen, dass alle geduldig warten, bis sie nach medizinischen Kriterien (und nur nach solchen!) an die Reihe kommen. Die gesellschaftliche Position zählt nicht, ebenso wenig wie Reichtum oder Macht. Das ist der eiserne Konsens unseres Gesundheitswesens, das die Menschen so gleich behandelt wie es in anderen Hinsichten nur selten der Fall ist. Da ist die Solidarität wirklich aller gefordert – und wenn sie verspielt wird, gibt es ein Hauen und Stechen.
 
Zur Solidarität gehört es auch, dass den Geimpften solange keine Vorzüge gewährt werden, wie nicht alle, die sich impfen lassen wollen, eine Impfung bekommen haben. So viel Solidarität müssen die Geimpften den Noch-Nicht-Geimpften schon entgegenbringen. Denn wenn schon jetzt ein Vorteil für Geimpfte gewährt würde, gäbe es kein Halten mehr und jeder, der genug Ellbogen hätte, würde sich vordrängeln. Für mich gehört es zu den wirklich tief traurig machenden Widersprüchen dieser Tage, dass in Deutschland ausgerechnet jene Partei, die man traditionell als Partei der Solidarität gesehen hat, jetzt mit dem Versprechen von sofortigen Privilegien für die Geimpften Wahlkampf zu machen versucht. Wie verzweifelt muss eine Partei sein, die ihre Herzensbotschaft so sehr verrät. Man muss kein Mitglied oder Anhänger dieser Partei sein, dass es einem in der Seele weh tut!
 
Das Evangelium des vergangenen Sonntags hat die Frage der Jünger gestellt: Rabbi, wo wohnst du? Und Jesus antwortet: Kommt und seht! – In diesen Wochen sind wir mehr als sonst auf unsere eigenen Wohnungen angewiesen und aus fremden Wohnungen verbannt. Das sorgt dafür, dass in den eigenen vier Wänden viel passiert, was den MitbewohnerInnen und Familienmitgliedern schweren Schaden zufügt.
 
Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 1994, in dem der Volkswagen-Konzern in Wolfsburg eine rollierende Vier-Tage-Woche (mit 28,8 Stunden Arbeitszeit) einführte, um Arbeitsplätze zu retten. Es war eine Art Kurzarbeit ohne staatliche Hilfen. Aber die Folgen waren verheerend. Die häufig wechselnden Schichtpläne stellten kaum überwindbare Anforderungen an die Koordinierung des sozialen Zusammenlebens: Die Freizeit von Familienmitgliedern, FreundInnen und Bekannten stimmte nicht mehr überein. JedeR ArbeiterIn verließ das Werk zu einer anderen Uhrzeit – das Bier mit den KollegInnen nach Arbeitsende fiel aus, die Eckkneipen schlossen. Fahrgemeinschaften zerbrachen und jedeR musste mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren. Auch zuhause waren die Familienmitglieder häufig zu unterschiedlichen Zeiten. Sie konnten nichts mehr gemeinsam unternehmen. Die öffentlichen Bibliotheken und Volkshochschulen erlebten einen massiven Nachfragerückgang. Dafür hingen die Männer oft zuhause herum, wenn die Frauen die Hausarbeit machten – und redeten ihren Frauen hinein. Die Zahl der Ehescheidungen im Landkreis Wolfsburg stieg innerhalb von zwei Jahren um 30 Prozent. Zu viel gemeinsame Zeit kann tödlich sein.
 
Ein wundervolles Beispiel für Konflikte, die aus zu viel Nähe entstehen können, hat Loriot in einem Sketch gegeben, der hier zu finden ist: https://www.youtube.com/watch?v=W4SxsJv48sY&ab_channel=AviChris 
 
Ja, zu viel Nähe ist ebenso stressig wie zu wenig. In Corona-Zeiten ist beides vermehrt vorhanden: Singles haben noch weniger Nähe als sonst, weil sie niemanden einladen oder besuchen können. Paare und Familien haben noch mehr Nähe, weil sie im Home-Office arbeiten sowie Schulen und Kitas geschlossen sind. Man rückt sich auf die Pelle. Und wenn dann noch weniger Computer und weniger Zimmer vorhanden sind als Familienmitglieder, wird es richtig eng.
 
Corona ist ein Stresstest für uns alle. Ob Singles oder Familien, wir bekommen die Vor- und Nachteile unseres Lebensstils viel intensiver vor Augen geführt als sonst. Die Vorteile können uns mehr lachen lassen, dankbarer sein lassen, die eigenen Beziehungen bewusster wertschätzen lassen. Die Nachteile können uns aber auch bis zur Weißglut reizen und münden in nicht wenigen Fällen in häusliche Gewalt.
 
Eine erste Folge ist, dass wir achtsamer miteinander umgehen müssen als sonst. Manche Familien haben von Beginn der Pandemie an neue Rahmenbedingungen ihres Zusammenlebens gestaltet: Mehr gemeinsam gebetet, häufigere Spieleabende eingeführt, miteinander musiziert und gesungen. Und viele Singles haben sich einen noch besser strukturierten Tagesplan gegeben, um sich an Leib und Seele gesund zu halten. Ich finde das großartig und sehr weitblickend. Jetzt, in der zweiten Halbzeit der Krise, sollten wir gezielt darüber nachdenken, was wir von unserem bisherigen Leben gerne weiterführen, vielleicht sogar verstärken wollen, und was wir nach Corona am besten sofort ändern sollten. Ich lade ein, sich dafür einmal einen ruhigen Abend herzunehmen und vielleicht auch ein paar Stichworte aufzuschreiben. Paare können das miteinander besprechen, Singles per Telefon oder Video mit dem besten Freund oder der besten Freundin.
 
Gewiss werden die Scheidungsziffern nach der Krise sprunghaft ansteigen. Einerseits ist das ein Nachholeffekt, weil gegenwärtig eine Scheidung kaum durchführbar ist, so dass eine Art „Scheidungsstau“ entsteht. Andererseits ist es ein Katalysator-Effekt, weil Corona manchen Paaren klarmachen wird, dass sie keine genügende Grundlage für ein gemeinsames Leben (mehr) haben. Wolfsburg 1995 und Loriot lassen grüßen. – Umgekehrt können aber auch (ungewollte) Singles nach der Pandemie in eine tiefe Krise stürzen, weil sie dann umso deutlicher sehen, wie glücklich viele in einer Partnerschaft oder Familie sind. Es beginnt wieder das Vergleichen, von dem ich vor einer Woche schrieb, und es wird wieder zum eigenen Nachteil ausfallen.
 
Es ist also gut, JETZT vorzubauen, um nicht im Sommer oder Herbst in ein Loch zu fallen. – In diesem Sinne grüßt
 
Michael Rosenberger