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Pilgern durch die Coronakrise - 27. April 2020

Liebe PilgerInnen durch die Corona-Zeiten,

faktisch traf uns die Corona-Krise relativ unvorbereitet. Und im Unterschied zum Klimawandel erfordert sie ein extrem schnelles Handeln. Nicht Jahrzehnte, sondern Tage und Wochen entscheiden über den Verlauf. Angesichts dessen müssen wir zugestehen, dass Politik und Verwaltung derzeit unter einem Druck stehen, den es seit dem II. Weltkrieg nie gab. Selbst die besonnene Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich, als sie von „Öffnungsdiskussionsorgien“ sprach, einen Lapsus geleistet, wie er ihr noch nie passiert ist. Das lässt ahnen, wie sehr die Entscheidungen auf ihr lasten. Noch dazu können die Wissenschaften viel weniger Rat geben als in Bezug auf die Klimaerwärmung. Letztere ist mittlerweile hervorragend durchgerechnet, die Modelle sind ausgereift. Man weiß sehr gut, was zu tun ist. Bei Corona ist das nicht so. Denn man hat noch keine empirischen Erfahrungen sammeln können. Niemand der jetzt lebenden Menschen hat je eine vergleichbare Pandemie erlebt. Niemand kennt bewährte Lösungsmodelle. Niemand kann auf Erkenntnisse über die langfristigen Folgen zurückgreifen.

Mittlerweile kennen wir zwar die Ansteckungsraten, haben ungefähre Vorstellungen von den sogenannten Dunkelziffern und können sehr grob auch etwas über Sterblichkeitsraten sagen. Vor ein paar Wochen hatten wir alle diese Daten noch nicht. Doch auch jetzt gibt es noch viele Unbekannte. Gerade eben erst lichtet sich der Streit der Virologen, welche Schutzmasken für welche Bevölkerungsgruppen wie viel wirken. Er konnte sich vorher auch gar nicht lichten, weil man ja erst am Experiment lernen kann. Und noch immer bleiben wissenschaftlich viele Fragen offen. Politik aber muss handeln. Es ist, wir müssen es eingestehen, vielfach eine Art Blindflug, den wir momentan erleben. Es wäre reine Scharlatanerie, wenn jemand behaupten würde, er könne durch die Nebelwand hindurchschauen. Wir müssen der Politik also zugestehen, dass sie tastet, ausprobiert, nachjustiert, Fehler macht, korrigiert…

PolitikerInnen müssen derzeit nicht nur im Blindflug entscheiden, sie treffen auch wie beim Blindflug Entscheidungen von maximaler Tragweite. Nicht nur der Zusammenbruch des Gesundheitssystems oder der Wirtschaft steht auf dem Spiel, sondern der Zusammenbruch eines Großteils gesellschaftlich tragender Strukturen. Um so viel ging es in der Politik seit 1945 nie. Und das wissen und spüren die PolitikerInnen auch. So viel Respekt vor ihren eigenen Entscheidungen hatten sie selten. Denn die Kuh ist ja noch lange nicht vom Eis. Und wenn tatsächlich einmal ein Teilsystem unserer Gesellschaft ins Wanken geraten sollte, egal welches, dann könnte ein Dominoeffekt eintreten, bis am Ende die Gesellschaft als ganze am Boden liegt.

Zudem müssen wir uns klar machen: Wir sind in einer dilemmatischen Situation. Es gibt nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, die Wahl des kleineren Übels. Ja, es wird Opfer der Corona-Politik geben. Unternehmen, die insolvent gehen; ArbeitnehmerInnen, die ihren Arbeitsplatz dauerhaft verlieren; Kinder, die langfristig geschädigt sind, weil sie von der Lernförderung der Schulen abgeschnitten oder der familiären Gewalt ausgesetzt sind; gemeinnützige Vereine, die bislang durch den Rost staatlicher Stützungsmaßnahmen fallen, aber denen auch Spenden und Sponsoring wegbrechen; und viele andere mehr. Doch das kann man nur sehr begrenzt der Politik vorwerfen. Es ist vielmehr der atemberaubenden Geschwindigkeit der Ausbreitung der Pandemie zuzuschreiben, die Entscheidungen über Nacht erfordert, in gehetzten Debatten und ohne die Möglichkeit reifen zu können. So viele Entscheidungen, dass selbst die schnellste Regierung immer hinterherrennen wird. Das Virus hat uns überrollt.

Das heißt nicht, dass gezielte und differenzierte Kritik unerwünscht oder verboten wäre, im Gegenteil: Die Regierungen lernen ja nur aus der Kritik von unten, von den Betroffenen. Es ist gut, dass die Debatten inner- und außerhalb der Parlamente jetzt lebhafter werden. Denn nur gemeinsam können wir die Wege finden, die unter allen Möglichkeiten die am wenigsten schlimmen sind. Dabei gilt es, den Handelnden wohlwollend und konstruktiv entgegenzutreten, und das tun die meisten Menschen auch. Sie ahnen die Herkulesaufgabe, die sich der Politik und den Verwaltungen derzeit stellt. Und sie bringen der Politik bei allen Meinungsverschiedenheiten großes Vertrauen entgegen.

Notgedrungen haben die nationalen Regierungen in den letzten Wochen extrem viele Aktivitäten selbst in die Hand genommen. Das mag manche dazu verführen zu denken, der Staat müsse jetzt alles leisten – und was immer schief gehe, sei ihm anzulasten. Aber auch der reichste und dynamischste Staat der Welt kommt in einer solchen Krise an seine Grenzen. Wir dürfen von ihm nicht alles erwarten, das hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gestern zurecht gesagt. Mich erinnert das an das berühmte Diktum des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde von 1976: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Er lebt vom zivilgesellschaftlichen Engagement seiner BürgerInnen. Gerade in Krisenzeiten. Die vielen Menschen, die derzeit in der Nachbarschaft oder in Freiwilligendiensten zu helfen versuchen, haben das verstanden. Ebenso jene, die jetzt klaglos Überstunden machen, weil in ihrem Beruf viel mehr zu tun ist als normal. Und natürlich auch die, die ihre eigene Situation mit Mut und Geduld in die Hände nehmen.

Es bleibt eine Gratwanderung, die höchste Anstrengung und Konzentration erfordert. In diesem Sinne grüßt euch/ Sie mit klopfendem Herzen,

Michael Rosenberger

PS: Damit der Humor (begleitet von hoher musikalischer Qualität!) nicht zu kurz kommt, hier noch ein wundervoller Link, der mir von einer guten Freundin zugesandt wurde: https://www.youtube.com/watch?v=agJRtVNeUl0&feature=youtu.be