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Pilgern durch die Coronakrise - 30. Dezember 2021

Liebe Pilgernden an der Schwelle zu einem neuen Jahr,
 
zunächst einmal hoffe ich, dass ihr/ Sie alle gesegnete und friedvolle Weihnachtstage verbringen durften und in Familie und Freundeskreis Stärkung und Ermutigung erfahren haben.
 
In den letzten Tagen bin ich auf einige höchst interessante Informationen gestoßen, die viel über die Pandemie und ihre Bewältigung verraten. So erschien kurz vor Weihnachten das gesundheitspolitische Jahrbuch der OECD “Health at a Glance 2021“: www.oecd.org/health/health-at-a-glance/ Nur ein paar Daten daraus. In den 35 OECD-Ländern hat es während der Covid-Pandemie bislang 2,5 Millionen oder 16 Prozent mehr Todesfälle gegeben als zuvor im gleichen Zeitraum – das ist ein hoher Wert. Oder um es anders zu sagen: Die Lebenserwartung ist in Deutschland und Österreich um 0,7 Jahre gesunken. Die Übersterblichkeit resultiert aber nicht allein aus den Covid-Toten, sondern auch aus Menschen, die verstorben sind, weil sie zu lange auf eine wichtige Operation warten mussten. Denn durch die Belegung der Intensivstationen mit Covid-PatientInnen hat sich die Wartezeit auf Operationen etwa verdoppelt. Deutschland und Österreich gehören bei der Covid-Bewältigung noch ins obere Mittelfeld der 35 OECD-Länder. Mit großem Abstand an der Spitze liegen Neuseeland, Australien, Südkorea, Finnland und Norwegen, die bisher am besten durch die Pandemie kamen. – Eine der wenigen guten Nachrichten: Seit Beginn der Impfungen hat sich die Zahl der wöchentlichen Todesfälle um 86% reduziert.
 
Was Omikron angeht, sitzen wir vermutlich alle wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Zwei brandaktuelle Studien aus Großbritannien deuten darauf hin, dass eine Infektion mit der Omikron-Variante zu milderen Krankheitsverläufen führt als mit der Delta-Variante. Eine Schätzung des Imperial College in London ergab, dass die Wahrscheinlichkeit von Klinikeinweisungen bei Omikron-Fällen in England um rund 20 Prozent niedriger liegt. Das Risiko, mit einer Omikron-Ansteckung für eine Nacht oder länger im Krankenhaus zu landen, sei sogar um 40 Prozent niedriger als bei Delta. Allerdings werden diese erfreulichen Zahlen gleich wieder annulliert, wenn man bedenkt, dass Omikron um mindestens 40 Prozent ansteckender ist, vielleicht sogar mehr. Insgesamt ist also leider nicht damit zu rechnen, dass unsere Intensivstationen in der nächsten Welle besser durchkommen als in der letzten.
 
Eine dritte Nachricht, die zuletzt durch die Medien ging: Österreich wird bis März 2022 voraussichtlich 10 Millionen Impfdosen übrig haben. Die Republik darf sie aber laut Verträgen mit den Herstellern nicht an arme Länder verschenken. Im Grunde ist es dasselbe Problem wie mit Lebensmitteln in den Supermärkten, die noch genießbar sind, aber nicht aus dem Müll der Supermärkte genommen werden dürfen. Der Nürnberger Jesuit Jörg Alt hat deswegen kurz vor Weihnachten bewusst „containert“, also genießbare Lebensmittel aus den Müllcontainern eines Supermarkts genommen und danach kostenlos verteilt. Zwangsläufig musste die Staatsanwaltschaft Nürnberg Ermittlungen gegen ihn aufnehmen, denn rein juristisch handelt es sich um schweren Diebstahl. Und genau das ist Alts Ziel: Auf das Problem der Lebensmittelverschwendung hinzuweisen und die neue Bundesregierung zum Handeln aufzufordern. Ehrlich gesagt würde ich mir eine ähnliche Aktion bei den überzähligen Impfstoffdosen wünschen. Lebensmittel und Medikamente sind keine Konsumgüter wie andere. Sie sind lebensnotwendig. Sie zu entsorgen, nur damit der Preis nicht sinkt, ist unmoralisch und verantwortungslos.
 
Doch jetzt zu meinem heutigen Hauptthema: Im zu Ende gehenden Jahr haben viele Menschen die Aussagen der Wissenschaft zur Pandemie angezweifelt. Teilweise haben Sie sogar von einer Diktatur der Wissenschaft bzw. der Virologie gesprochen. Daher möchte ich der Frage nachgehen, wie Wissenschaft arbeitet und wie ihre Ergebnisse zu verstehen sind. Mir scheint, dass da eine Menge Missverständnisse zu Grunde liegen, die kaum jemandem bewusst sind.
 
Zunächst einmal wird oft davon gesprochen, der Wissenschaftler X oder die Forscherin Y habe „die Meinung, dass…“ Wissenschaftliche Aussagen sind aber keine Meinungen, sondern Erkenntnisse. Sie werden mit den besten gegenwärtig zur Verfügung stehenden Methoden erarbeitet. Das heißt nicht, dass sie unfehlbar wären. Sie sind aber reproduzierbar. Wer mit derselben Methode Daten ermittelt, wird zum selben Ergebnis kommen. Das heißt, dass wissenschaftliche Ergebnisse der Wahrheit näher kommen als alle „Meinungen“. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Als die mittelalterlichen Dome gebaut wurden, gab es noch keine wissenschaftliche Lehre von der Statik großer Gewölbe. Die Baumeister bauten nach Gefühl und praktischer Erfahrung. Gemessen daran ist es erstaunlich, was sie zustande brachten. Aber wir wissen eben auch, dass zahlreiche romanischen oder gotischen Gewölbe bereits während des Baus einstürzten. Das hat sich mit der wissenschaftlichen Statik geändert. Heutige Einstürze resultieren aus der Verwendung schlechter Baumaterialien, um Geld zu sparen, oder aus Korruption, weil die Baufirma den Auftraggeber täuscht. Aber so gut wie nie mehr aus mangelndem Wissen.
 
Freilich kann auch die Wissenschaft irren und muss dann im Nachhinein Positionen korrigieren. Sie ist ein lernendes System, insbesondere dort, wo sie sich auf unbekanntes Terrain begeben muss. Ein neues Virus ist solch ein unbekanntes Terrain. Wie aber lernt die Wissenschaft? Sie lernt auf der Grundlage von Evidenzen. Durch die Erhebung möglichst vieler Daten, die einen Erkenntnisgewinn versprechen, und deren anschließender Analyse versteht man Schritt für Schritt besser, wie die Gesetzmäßigkeiten der Pandemie aussehen. Manchmal kann es dabei zu einem „Paradigmenwechsel“ (Thomas Kuhn) kommen. So konnten die Astronomen auch vor Galilei und Kepler sehr gut berechnen, wann wo am Himmel welcher Stern zu sehen sein würde. Aber mit dem Paradigmenwechsel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild wurden die Berechnungen viel einfacher. Und letztlich kam der Schwenk vor allem durch die Erfindung des Fernrohrs zustande, mit dem man die Himmelskörper präzise sehen konnte.
 
Verglichen mit anderen gesellschaftlichen Systemen (z.B. dem lokalen Handel, der sich extrem schwer tat und tut, auf Online-Vertriebsmodelle umzustellen) hat die Wissenschaft in der Pandemie extrem schnell gelernt. Das hängt damit zusammen, dass es etablierte Mechanismen gibt, die dafür sorgen, dass alle an einem Strang ziehen. Weltweit wurden alle wichtigen Daten sofort publiziert, sogar in Ländern, die sich ansonsten streng abschotten. In der Wissenschaft behält man seine Erkenntnisse nicht für sich, sondern teilt sie – und wird dafür nur mit einer einzigen Währung belohnt: Der Ehre. Der Name dessen, der etwas herausgefunden hat, wird von allen zitiert, und manchmal gibt es auch einen Wissenschaftspreis. Das genügt zur Motivation, weil die Wissenschaft zu einem sehr, sehr großen Teil durch die öffentliche Hand finanziert wird – WissenschaftlerInnen haben ordentliche Gehälter und gut ausgestattete Labore. Das unterscheidet sie von der anwendungsorientierten Forschung in der Industrie. Jene Pharma-Unternehmen, die die Impfstoffe entwickeln, müssen gewinnorientiert arbeiten (wenn man auch zurecht fragen kann, wie hoch dieser Gewinn sein muss oder darf). Es sind private Konzerne, selbst wenn sie vielleicht eine staatliche Anschubfinanzierung erhalten haben.
 
Wie aber verhindert die Wissenschaft (weitestgehend) Fake News, die Fälschung von Daten? Das Schlüsselwort heißt Peer Review – die kollegiale Kontrolle. Kein Ergebnis wird publiziert, bevor es nicht strenge Kontrollen durch die Gremien der Zeitschriften und Fachgesellschaften durchlaufen hat. Das Wissenschaftssystem ist eine Art kollektive Intelligenz. Es lebt von autorisierten Gremien und anerkannten Mechanismen. Und da zählt nicht die Mehrheitsmeinung, sondern die Genauigkeit der Daten und Argumente.
 
Noch eine letzte Frage möchte ich ansprechen, da sie mir in Gesprächen der letzten Monate oft begegnet ist. Manche haben den Verdacht, dass eine wissenschaftliche Studie, die nur an einigen Zehntausend ProbandInnen durchgeführt wurde, nicht verlässlich sein kann. Vorsicht! Vor einer Parlamentswahl werden sogar nur einige Tausend Menschen befragt, und die Hochrechnungen der Institute liegen selten mehr als ein Prozent vom tatsächlichen Wahlergebnis entfernt. Der entscheidende Faktor ist, dass man die ProbandInnen „repräsentativ“ auswählt, dass sie also in möglichst vielen Hinsichten die zu untersuchende Gruppe perfekt abbilden. Und für die Herstellung dieser Repräsentativität gibt es wiederum verlässliche Methoden. Das ist eine Wissenschaft für sich.
 
Entscheidend für die Größe der untersuchten Gruppe ist die Frage, wie viel Genauigkeit man braucht. Und natürlich möchte man bei Impfungen und Medikamenten viel genauere Erkenntnisse über Risiken und Nebenwirkungen haben als bei Wahlumfragen über das Abschneiden von Parteien. Deswegen werden für jede neue Impfung mindestens drei Studien durchgeführt, die nach den drei Phasen gezählt werden:

  • Phase I-Studien untersuchen vor allem Sicherheit und Verträglichkeit von neuen Impfstoffentwicklungen an einer kleinen Studienpopulation von weniger als 100 gesunden erwachsenen Personen, die sich dafür freiwillig zur Verfügung stellen. Diese Studien dienen zu einer ersten, noch recht groben Orientierung.
  • Phase II-Studien dienen zum Finden der optimalen Dosierung sowie zur Prüfung der Immunisierungswirkung und Verträglichkeit eines Impfstoffes an mehreren hundert Prüfungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmern.
  • Phase III-Studien schließlich untersuchen Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe an mehreren tausend bis mehreren zehntausend Prüfungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmern verschiedener Altersgruppen.

Erst wenn ein Impfstoff alle drei Phasen durchlaufen hat, kann seine Zulassung durch die Gesundheitsbehörden beantragt werden. Und hier können wir sagen: Selten hatten medizinische Studien so viele ProbandInnen wie in der Pandemie. Die Sicherheit der Impfstoffe ist daher extrem hoch. Die meisten Medikamente, die wir in unserem bisherigen Leben eingenommen haben, dürften viel weniger geprüft gewesen sein. Und doch waren auch sie sicher und haben uns vermutlich geholfen.
 
Im Grunde ist es wie im richtigen Leben: Ganz ohne Risiko geht es nie. Und doch ist das Risiko einer Impfung um Lichtjahre geringer als beispielsweise das Risiko einer Ehe. Ob eine Ehe tragfähig ist, wissen wir erst am Ende des Lebens. Natürlich prüfen sich Paare vor der Hochzeit und überlegen, ob sie wohl gut miteinander alt werden können. Und vielleicht hören sie auch auf den Rat erfahrener Menschen aus ihrem Umfeld oder auf den Rat eines erfahrenen Seelsorgers. Aber von der Treffergenauigkeit einer wissenschaftlichen Prognose werden sie immer noch weit entfernt sein. Die Scheidungsraten zeigen es eindrücklich. Wenn wir also an eine Ehe dieselben Sicherheitsanforderungen stellen würden wie an eine Impfung, dürfte niemand mehr heiraten.
 
Und selbst nach einer Ehescheidung gilt: Wichtiger als zu lamentieren, wer für das Scheitern verantwortlich ist, ist die Frage, was man für eine zweite Ehe daraus lernt. Der Mensch ist ein lernfähiges Wesen. Das Gehirn ist für alle Tiere, die es haben, in der Evolution ein Riesenvorteil, weil Lebewesen mit Gehirn viel schneller und zielgerichteter lernen als Lebewesen ohne Gehirn. Intelligenz bedeutet also nicht, das ultimative Wissen zu haben, sondern aus Fehlern und Irrtümern die richtigen Schlüsse zu ziehen. Und das sollte man auch den besten WissenschaftlerInnen zugestehen.
 
Sich aus Angst nicht impfen zu lassen ist also weit weniger gerechtfertigt als aus Angst nicht zu heiraten. Komischerweise haben die meisten Menschen beim Heiraten aber weniger Angst. Insofern schließe ich mit der weihnachtlichen Ermutigung: Fürchtet euch nicht! Es gibt wirklich keinen Grund dazu.
 
In diesem Sinne wünsche ich euch/ Ihnen ein gesegnetes und hoffnungsvolles neues Jahr,
 
Michael Rosenberger