Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

Pilgern durch die Coronakrise - 30. Januar 2022

Liebe Pilgernden in turbulenten Zeiten,
 
die Omikron-Welle kommt ihrem Höhepunkt näher – und dürfte ihn doch erst in zwei Wochen erreichen. Noch sind die Krankenhäuser relativ leer. Aber wir wissen ja, dass die meisten Einweisungen erst drei Wochen nach der Infektion erfolgen. Die eigentliche Herausforderung kommt also in einem Monat. Jetzt allerdings erreicht sie schon die „kritische Infrastruktur“. Verkehrsbetriebe kürzen ihre Fahrpläne, weil zu viele LokführerInnen, BusfahrerInnen und andere erkrankt sind. Versorgungsbetriebe machen notfallmäßige Dienstpläne, weil viele Mitarbeitenden in Quarantäne sind. Das ist nicht so auffällig und dennoch sehr sensibel. Hoffen wir, dass die großen Blackouts ausbleiben.
 
Zu Beginn dieser Woche hat sich eine große Gruppe von Menschen in der Kirche geoutet, die eine von den katholischen Normen abweichende sexuelle Orientierung oder Identität haben: https://outinchurch.de/manifest/ . Wer sich die Website anschaut, wird sicher ein paar bekannte Gesichter finden – egal wo man in Deutschland oder Österreich lebt. Und genau das ist gewollt: Dem Anliegen der Akzeptanz sexueller Vielfalt Gesichter zu geben. So viele Gesichter, dass die Kirchenoberen kaum irgendwelche gravierenden Sanktionen durchsetzen können. Dementsprechend sind die bisherigen Reaktionen deutscher Bischöfe und Generalvikare auch sehr wertschätzend und konziliant. Und die Zeiten, in denen Rom einen härteren Kurs hätte durchsetzen können und wollen, sind mit Franziskus vorbei. Es bewegt sich also etwas. Ob es nachhaltige Veränderungen bewirken kann, muss sich freilich in den nächsten Jahren erst noch zeigen.
 
Wie angekündigt möchte ich in meinem heutigen Rundbrief auf das fast 2000 Seiten starke Missbrauchsgutachten der Kanzlei „Westpfahl Spilker Wastl Rechtsanwälte“ eingehen. Dabei geht es mir weniger um die bestürzenden Fallanalysen und das darin sichtbar werdende Verhalten einzelner Priester und Bischöfe. Dass zumindest alle noch lebenden Personen, die im Gutachten namentlich genannt werden, eine klare Reaktion zeigen müssen, ist unerlässlich. Das Herausreden mit dem Argument, man habe nichts gewusst, geht definitiv nicht mehr. Dafür sind die Belege zu klar. Ich möchte mich hier aber vor allem auf einige Beobachtungen des Gutachtens zu systemischen Problemen der katholischen Kirche konzentrieren. Die GutachterInnen greifen hier vieles auf, was schon andere Gutachten dargestellt haben, bringen es aber zu einer sehr treffenden und differenzierten Synthese. Allerdings merkt man an einzelnen Punkten, dass ihnen die theologische Sicht auf das Dargestellte fehlt. Hier werde ich meine eigenen Kommentare ergänzen.
 
Zunächst einmal die (wenigen) guten Nachrichten aus dem Gutachten, die leider in den Medien völlig übergangen werden. Zwei entscheidende Systemverbesserungen wurden in den letzten zehn Jahren erreicht:

  • 1. „Festzuhalten ist…, dass seit 2010 ein entschlossenes Bemühen der Erzdiözese festzustellen ist, den Umgang mit Fällen des sexuellen Missbrauchs fortlaufend und entscheidend zu verbessern. Hervorzuheben ist insoweit vor allem der Bereich der Prävention. Die diesbezüglichen Anstrengungen werden oftmals als vorbildhaft angesehen und verdienen Anerkennung.“ (16) An anderen Stellen hebt das Gutachten sogar hervor, dass das Präventionssystem der katholischen Kirche in Deutschland seit 2010 ein Niveau erreicht hat, das einzigartig ist und weltweit für andere Organisationen (z.B. Sportverbände, Musikschulen usw.) vorbildhaft sein sollte. Bei allem, was auch im Jahr 2022 noch unaufgearbeitet oder defizitär ist, sollte man diesen wirklich großen Fortschritt nicht vergessen. Und ich denke, man könnte ihn analog auf die österreichische Kirche anwenden, die ein sehr ähnliches Präventionssystem hat wie Deutschland.
  • 2. Die Gründung des Päpstlichen Kinderschutzzentrums 2012 in München wurde und wird maßgeblich von der Erzdiözese München und Freising finanziert und ist ein globales Highlight, was die Schulung von Missbrauchs- und Präventionsbeauftragten in Institutionen angeht (431-432). 2015 wurde das Zentrum nach Rom transferiert und 2021 als „Institut für Anthropologie – Interdisziplinäre Studien zu Menschenwürde und Sorge für schutzbedürftige Personen“ (IADC) der Päpstlichen Universität Gregoriana angegliedert, um institutionell noch besser in den Wissenschaftsbetrieb eingebunden werden zu können (u.a. auch um akademische Grade verleihen zu können). Das Zentrum/ Institut arbeitet eng mit der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universitätsklinik Ulm zusammen. Der Leiter, der Psychologe und Jesuit Pater Hans Zollner, ist mittlerweile weltweit anerkannt und vernetzt. Viele Kurse werden auch als E-Learning angeboten, und das in vielen Sprachen, so dass das IADC ein Leuchtturmprojekt rund um den Globus ist.

Damit sind die guten Nachrichten aber auch schon ausgeschöpft.
 
Unter den systemischen Mängeln, die zur Vertuschung von Missbrauch führten, machen die Gutachter lang und breit einen Faktor mitverantwortlich, an den man zunächst gar nicht denken würde: Das weitgehende Fehlen moderner Verwaltungsstandards in der Diözesanverwaltung (323-335): Bis vor wenigen Jahren, so das Gutachten, war die Verwaltung des Erzbistums München und Freising „desolat“. Seit den 1970er Jahren hatte sich die Zahl der Mitarbeitenden im Erzbischöflichen Ordinariat versechzehnfacht. An den Verwaltungsabläufen hatte sich jedoch nichts geändert. „Trotz der Größe der Institution gab es im Jahr 2010 keine standardisierten Prozesse, keine klaren Aufgaben- und Verantwortungszuweisungen, keinen einzuhaltenden Dienstweg, keine eindeutigen Verantwortlichkeiten und keine einheitlichen Vorgaben für die Schriftgutverwaltung.“ (324) Und das lag zumindest seit 2005 nicht mehr an der Führung. Vielmehr verhinderten die Mitarbeitenden im Ordinariat die Einführung eines Dokumentenmanagementsystems und die Priester die Eingliederung ihrer Personalakten in die allgemeine Personalaktenverwaltung. Es gab also bis vor wenigen Jahren oft mehrere Personalakten über dieselben Personen, von denen keine alle Informationen enthielt. Auch ein Projekt „Nachvollziehbarkeit“, das für Transparenz der Abläufe sorgen sollte, scheiterte im ersten Anlauf am Widerstand der Mitarbeitenden: Sie hatten „diffuse Ängste“ vor totaler Kontrolle durch den Erzbischof. Das Fazit des Gutachtens: „Trotz der progressiven Reformmaßnahmen der letzten elf Jahre ist es nach Aussage von Zeitzeugen bis heute noch nicht gelungen, alle Defizite in der Verwaltung der Erzdiözese München und Freising zu bereinigen. Nach Auffassung der Gutachter sind neben der schlechten Ausgangssituation insbesondere auch die bei einem nicht unerheblichen Teil der Mitarbeiter vorherrschenden eingefahrenen Denkmuster und daraus resultierenden Widerstände, die bis heute nicht überwunden werden konnten, ursächlich. Allerdings hat die Bistumsleitung im Jahr 2010 nach dem Dafürhalten der Gutachter einen Weg in die richtige Richtung eingeschlagen und solide Grundlagen für eine professionelle, aber auch transparent und nachvollziehbar agierende Verwaltung gelegt.“ (335) Diese Verwaltungsreform soll 2022 endlich abgeschlossen werden –17 Jahre nach den ersten Vorschlägen der Diözesanleitung.
Warum lege ich auf diese Passagen so viel Wert? Weil manche Gründe für die Vertuschung schlicht im Dilettantismus der Kirche liegen. Während es im weltlichen Bereich in der Leitung großer Verwaltungen seit Jahrzehnten studierte VerwaltungswissenschaftlerInnen gibt, hat die Kirche bislang gemeint, sie brauche das nicht. Wir wollen doch Seelsorge machen, und da hemmt die Bürokratie nur als lästiger Klotz am Bein! Und bitte ja nicht zu viel Transparenz, denn dann wird auf einmal sichtbar, wer gute Arbeit macht und wer nicht. – Und dann wundern wir uns, warum Unterlagen über Missbrauchstäter lückenhaft oder gar nicht auffindbar sind. Oder dass sie unbemerkt in einem Geheimarchiv des Bischofs oder Generalvikars verschwinden konnten. Das wäre bei Beachtung moderner Verwaltungsstandards gar nicht möglich gewesen. Auch dass sich selbst nach 2010 niemand für die seelsorgliche Begleitung der Opfer und der betroffenen Pfarreien zuständig fühlte, lag an der konfusen Verwaltung. Es war schlicht nie besprochen worden.
 
Eine zweite systemische Ursache liegt für die GutachterInnen im mangelhaften kirchlichen (!) Strafrecht. Historisch schildert das Gutachten für die Neuzeit drei Phasen:

  • 1. Die Phase der Klarheit und Härte (ca. 1500 – 1850): Schon das V. Laterankonzil von 1512 – 1517, also noch vor dem Thesenanschlag Martin Luthers (!), ordnet an, dass Kleriker, die ein Verbrechen im Bereich des sexuellen Missbrauchs begehen, kirchlich und weltlich zu bestrafen sind. Dabei ist ein weltliches Strafrecht für Sexualdelikte im 16. Jahrhundert gerade erst eingeführt worden. Das Laterankonzil klärt hier also seine Beziehung zu den neuen weltlichen Instanzen, und zwar uneingeschränkt positiv. Das Konzil von Trient bekräftigt 1551 diesen Weg: Missbrauchstäter sind aus dem Klerikerstand zu entlassen (also ihrer Immunität als Kleriker zu berauben) und der weltlichen Strafgerichtsbarkeit zuzuführen. Vielfach werden Priester sogar darauf verpflichtet, den sexuellen Missbrauch eines Amtsbruders beim Bischof anzuzeigen, wenn sie davon in der Beichte erfahren. Man hebt also für diese Fälle das Beichtgeheimnis auf – etwa im Erzbistum Mailand durch Erzbischof Karl Borromäus. Insgesamt fährt man einen klaren und harten Kurs.
  • 2. Die Phase des Geheimhaltens und Vertuschens (ca. 1850 – 2000): Die Säkularisation um 1800 führt zu einer weitgehenden Entmachtung der Kirche. Sie verliert nach und nach ihre weltlichen Herrschaften (Fürstbistümer, Kirchenstaat etc.) und viele ihrer Güter. Klöster werden zuhauf aufgelöst. Das führt zu einer psychologisch verständlichen, wenn auch unreifen Abwehrhaltung gegenüber den säkularen Staaten nach außen und zu einer Bunkermentalität nach innen. Der große Vorreiter auf diesem Weg ist Papst Pius IX. Er ist verantwortlich für die unermessliche Überhöhung und Sakralisierung des Priestertums (und Papsttums, das nun bei der Verkündung von Dogmen für unfehlbar erklärt wird) und für die feindselige Haltung gegenüber allen Tendenzen zur Liberalisierung und Demokratisierung der Staaten. Konkret führt er viel mildere Kirchenstrafen für priesterliche Missbrauchstäter ein und ordnet an, dass keine Übergabe von Informationen über diese an weltliche Gerichte erfolgen darf. Außerdem ordnet er ein strenges Regiment der Geheimhaltung an, um Skandale zu vermeiden. Ja, er bemüht sich sogar, halbwegs kirchenfreundliche Staaten zur Privilegierung der Priester im weltlichen Strafrecht zu bewegen. Im 20. Jh. wird die Geheimhaltung immer weiter verschärft und verhindert nun systematisch die Anzeige eines Priesters beim Staat. Auch die kirchliche Strafe für Missbrauchstäter wird weiter gemildert, sogar noch im Kodex des kirchlichen Rechts von 1983.
  • 3. Die Phase der Infragestellung kirchlicher Strafen insgesamt (seit dem II. Vatikanisches Konzil 1961 – 1965): Das Konzil bedeutet zwar einerseits eine Zuwendung der Kirche zur Welt und eine Anerkennung aller Menschenrechte. Die Sakralisierung der Priester will es zurückfahren und die Kirche realistischer betrachten. Doch bleibt das Konzil blind für die Wichtigkeit des (Straf-)Rechts. Man spricht von der „Kirche der Liebe“ und sucht für alle Probleme „pastorale Lösungen“. Die Idee, dass in der JüngerInnengemeinschaft Jesu von Nazaret Strafe überflüssig sei, greift Raum. Und so ist der Kodex des Kirchenrechts von 1983 im Grunde eine abgemilderte Version des vormodernen Kirchenrechts alter Schule. Papst Franziskus hat im vergangenen Jahr eine Reform des kirchlichen Strafrechts promulgiert, die bereits Papst Benedikt XVI. angestoßen hatte. Aber ganz ehrlich: Herausgekommen ist ein „Mini-Reförmchen“, das zwar punktuelle Verbesserungen im Bereich sexueller Vergehen von Klerikern enthält, aber weit hinter den Erfordernissen zurückbleibt. Eine grundlegende Reform müsste auch eine Reform des gesamten Codex sein. Jungen Wein kann man nicht in alte Schläuche gießen…

Insofern hängt das Kirchenrecht noch immer in einer Mischversion von Phase 2 und Phase 3 fest – und müsste doch dringend in eine Phase 4 übergeführt werden. Fast alle demokratischen Staaten haben nach 1945 ihr gesamtes Rechtssystem enorm modernisiert. Der Vatikan/ Die Kirche hingegen ist auf dem Stand von 1800 stehengeblieben. Dadurch ist – aus meiner laienhaften Einschätzung als kirchenrechtlich Ungeschulter – eine punktuelle Nachbesserung des geltenden Kirchenrechts unmöglich geworden. Vielmehr braucht es einen kompletten Neuanfang – etwa so wie in der Bundesrepublik nach 1945 mit der Erarbeitung des Grundgesetzes. Im Unterschied zum sogenannten „Parlamentarischen Rat“, der damals von den Länderparlamenten gewählt werden konnte, die ihrerseits vom Volk gewählt waren, hat die Kirche aber bislang keine vom Volk gewählten Länderparlamente. Man müsste also zunächst einmal ein Wahlprozedere einführen – eine schiere Unmöglichkeit. Daher denke ich an eine Alternative: Die Kirche legt die Aufgabe der Erarbeitung eines neuen Kirchenrechts komplett in die Hände Dritter. Man könnte zum Beispiel die Verfassungsgerichte aller halbwegs seriösen und demokratischen Staaten bitten, je eine Person für ein solches Gremium zu nominieren. Auf diese Weise könnte eine ähnliche Gruppengröße zusammenkommen wie 1948 in Deutschland, wo letztlich 77 Mitglieder das Grundgesetz schrieben.
 
Ich gebe zu, ich träume ein wenig. Aber meines Erachtens ist nicht mehr die Frage, ob ein solcher Schritt in den nächsten Jahren kommen wird, sondern nur noch wann. In den letzten Jahren ist mir Joh 21,18 immer wichtiger geworden. Dort sagt Jesus zu Petrus: „Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.“ Das Johannesevangelium enthält keinen einzigen Satz, der nicht doppeldeutig gemeint ist. Dieser hier bedeutet auf der wörtlichen Ebene zunächst, dass Petrus den Märtyrertod sterben wird. Aber auf der symbolischen Ebene bedeutet er, dass der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, immer wieder an Punkte kommen wird, wo er selber die Kirche nicht mehr führen kann, sondern einem anderen (Menschen oder eher Gremium) von außerhalb der Kirche die Führung überlassen muss. Der wird sie führen, wohin es der Papst womöglich nicht will – und doch wird es richtig und hilfreich sein. Für mich ist das Herausforderung und Hoffnung zugleich.
 
An dieser Stelle unterbreche ich meine Reflexionen zum Münchener Missbrauchsgutachten, damit es nicht zu lang wird. Nächste Woche fahre ich mit der Analyse zweier weiterer systemischer Ursachen fort. Für heute herzliche Grüße,
 
Michael Rosenberger