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Pilgern durch die Coronakrise - 5. Februar 2022

Liebe Pilgernden in Zeiten neuer Höchstzahlen, 

noch ist der Scheitelpunkt der Omikron-Welle nicht erreicht. Modellrechnungen der Humboldt-Universität Berlin zeigen, dass er in Deutschland Ende Februar erreicht werden wird. Da wir allerdings im Vergleich mit früheren Wellen mit guten Gründen weniger Restriktionen haben, wird sich die Welle dann längere Zeit auf sehr hohem Niveau bewegen und sehr langsam abschwächen. Es wird also fast bis Ostern dauern, bis die Welle wirklich abgeklungen ist.

In der Debatte um die Impfpflicht hat man in den letzten Wochen immer öfter das Argument gehört, diese bringe zum jetzigen Zeitpunkt sowieso nichts, weil diejenigen, die jetzt die erste Impfung empfangen würden, sowieso nicht geschützt seien, bis die Welle vorüber sei. Das ist ganz offenkundig ein fahrlässig vergröbertes Argument. Die Berechnungen der Humboldt-Universität zeigen, dass allein eine höhere Erstimpfungsrate die Omikron-Welle erheblich abgeschwächt und die Belegung der Intensivstationen in einigen Wochen deutlich reduziert hätte. Das Argument, die Impfpflicht würde gegen Omikron und weitere kommende Varianten nichts ausrichten, ist also schlicht falsch. Es ist von MedizinerInnen in die Welt gesetzt worden, wo die Expertise der MathematikerInnen gefragt gewesen wäre. Omikron: 300.000 Neuinfektionen pro Tag zu erwarten | NDR.de - Nachrichten - NDR Info

Das Beispiel hat mir wieder einmal deutlich gemacht, wie komplex die Dinge liegen und wie viele verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zusammenwirken müssen, damit man zu einem sachgerechten Urteil kommen kann. Und es funktioniert eben nur, wenn jede Wissenschaft weiß, was sie kann und was sie nicht kann, und wenn die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit weiß, was sie kann und was sie nicht kann. Wenn wir diesbezüglich etwas dazulernen, hat sich die Pandemie schon fast gelohnt.

In der vergangenen Woche habe ich bereits zwei der systemischen Ursachen für den fahrlässigen Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch angesprochen: Das Fehlen moderner Standards in der kirchlichen Verwaltung, das zu unklaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten führt und die Transparenz massiv erschwert. Und das völlig rückständige katholische Kirchenrecht, das das Niveau zeitgemäßer Rechtsstaatlichkeit nicht nur, aber eben auch im Strafrecht weit verfehlt. Man könnte sagen: Das sind die zwei „weltlichen“ Defizite der Kirche in diesem Bereich. Glaubensfragen spielen dabei eigentlich keine Rolle. Heute möchte ich zwei weitere systemische Ursachen benennen, bei denen genau das der Fall ist: Es geht um schwere Defizite im dogmatischen und moraltheologischen Bereich – und das wiegt eigentlich noch schwerer. Bei den Defiziten in Organisation und Recht könnte man ja geneigt sein zu sagen: Naja, die Kirche ist eben nicht von dieser Welt. Bei den Defiziten, die ich jetzt nennen werde, geht genau das nicht. Deshalb wiegen sie umso schwerer.

Die dritte systemische Ursache für die Vertuschung sexuellen Missbrauchs in der Kirche ist für das Gutachten die Sprachlosigkeit der Priester und insbesondere der kirchlichen Oberen in Fragen der Sexualität. Die vor 1945 geborenen Bischöfe haben schlichtweg nie gelernt, unverkrampft und vernünftig über Sexualität zu sprechen. Ich kann aus eigenen Erfahrungen bezeugen, dass Bischöfe dieser Generation rot wurden und im Boden versinken wollten, wenn die Sprache auf Fragen der Sexualität kam. Und selbst an den theologischen Fakultäten ist der Paradigmenwechsel noch nicht lange her. Ich gehöre zu den Begünstigten, die mit Bernhard Fraling einen moraltheologischen Lehrer genießen durften, der sachlich und auf dem neuesten Stand der Forschung über sexualethische Fragen sprach. Und einige andere Kollegen seiner Generation taten das auch. Das war damals aber noch keineswegs überall so – in Rom an der Gregoriana jedenfalls nicht. Da spotteten wir nur über die Verkrampftheit des Professors, der die Sexualethik las. Seine gedanklichen Drehungen und Windungen, um nur ja nicht zu direkt zu sprechen, waren bizarr.

Dieses Unvermögen, frei und entspannt über Sexualität zu reden, ist der lange Schatten einer verfehlten kirchlichen Sexualmoral. Über Jahrhunderte vermittelte die Kirche den Gläubigen den Eindruck, es gäbe keinen anderen Bereich, in dem so viele Gefahren zu sündigen lauern wie hier. Die Beichtpraxis wurde fast auf das VI. Gebot reduziert. Alles andere war unwesentlich, und wenn man da etwas vergaß oder wegließ, wurde es nachgesehen. Aber in sexuellen Fragen musste jedes kleinste Detail vollständig gebeichtet werden. Und als man im 19. Jh. muttersprachliche Beichthandbücher für die Priester herauszugeben begann, blieben alle Anweisungen zum VI. Gebot in Latein stehen. Sie durften nicht übersetzt werden. Was hat man damit an geistiger und seelischer Deformation erzeugt!

Angesichts dessen kann ich mir gut vorstellen, dass die Bischöfe der älteren Generation einfach nur froh waren, wenn sie einen Missbrauchsfall endlich vom Tisch hatten. Natürlich war ihnen klar, dass der Missbrauch von Kindern ein furchtbares Unrecht war. Aber sie waren sprach- und hilflos, weil sie sich nie aus den Fängen der verkorksten kirchlichen Sexualmoral befreit hatten. Ich will nicht sagen, dass sie das entschuldigt. Von einer Führungskraft darf man erwarten, dass sie entweder selbst dazulernt oder wenigstens jemanden an den Vorgängen beteiligt, der entsprechende Kompetenz hat. Wenn jedoch gegenwärtig bestimmte Kreise in der Kirche meinen, dass der Synodale Weg in Deutschland die Missbrauchsfälle missbrauche, um eine neue Sexualmoral auf den Weg zu bringen, dann ist das skandalös. Zu leugnen, dass die Tabuisierung der Sexualität durch die Kirche zur Sprachlosigkeit geführt hat und die Sprachlosigkeit wiederum zur Unfähigkeit im Umgang mit Missbrauchsfällen, das ist eine Wirklichkeitsverweigerung ohne Maß.

Die Kirche braucht eine neue Sprache, um das sexuelle Erleben auszudrücken. Papst Franziskus hat in seinem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia einen Anfang gemacht. Aber es ist eben nur ein Anfang. Um schneller voranzukommen, wird die Kirche von der Welt lernen müssen.

Nun komme ich zu einer letzten systemischen Ursache, einer, die das Gutachten nicht nennt, weil es keine TheologInnen geschrieben haben, die aber wichtig ist, um das erschreckendste Phänomen umfassend zu erklären, nämlich die durchgehende Nichtbeachtung der Opfer und die Konzentration aller seelsorglichen und fürsorglichen Bemühungen auf die Täter. Das Gutachten nennt als Ursache dafür vor allem den Klerikalismus, und das ist natürlich absolut richtig – gerade auf dem Hintergrund dessen, was ich im letzten Rundbrief zu den Veränderungen unter Pius IX. um 1850 gesagt habe. Aber der Klerikalismus ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere greift sogar noch tiefer. Sie liegt in einer fatal einseitigen dogmatischen Entwicklung in der Lehre über das Sakrament der Versöhnung und seine praktische Durchführung seit dem frühen Mittelalter.

In der frühen Kirche war das Sakrament der Versöhnung ausschließlich für schwerwiegende Vergehen reserviert. Kleinere Sünden waren kein Anlass zu diesem aufwändigen Verfahren. Denn „beichten“ durfte man nur ein einziges Mal im Leben. Das tat man also nur in sehr schwerwiegenden Angelegenheiten. Dann aber geschah das öffentlich (wobei die Vergehen ohnehin meist schon allen bekannt waren). Der Bischof wies den reuigen Sünder in den Büßerstand ein und bemaß eine dem Vergehen angemessene Bußzeit. Während dieser Zeit galt es streng zu fasten und auf die Teilnahme an der Kommunion zu verzichten. Wohlgemerkt, wir reden hier nicht von Wochen, sondern von Jahren! War die Bußzeit vergangen und die Buße treu geleistet worden, erteilte der Bischof dem Sünder oder der Sünderin am Gründonnerstag die Lossprechung und gab ihm/ ihr im Friedensgruß den „Frieden mit der Kirche“ (pax cum ecclesia) wieder. Dabei waren die Geschädigten bzw. Opfer der verwerflichen Tat selbstverständlich anwesend. Der Bischof musste daher so agieren, dass sie einverstanden sein konnten. Das Bußsakrament war also in dieser Epoche eine echte Gerichtsverhandlung: Öffentlich und unter Anwesenheit beider Parteien. Dass auch die Entschädigung der Opfer Thema gewesen sein dürfte, scheint nahezu zwingend.

Im frühen Mittelalter verändert sich die Situation. Die Kirche ist nicht mehr eine kleine Minderheit, sondern Volkskirche. Und die Menschen haben Ängste. Ängste, dass Gott ihnen die nicht gebeichteten kleinen Sünden nicht vergibt. Da vermischt sich das Sakrament der Versöhnung mit einer anderen Tradition, nämlich der geistlichen Begleitung. Spirituell erfahrene Männer und Frauen (LaiInnen!) haben seit dem 3. Jahrhundert Menschen geistlich begleitet. Das geschah unter vier Augen, ohne Öffentlichkeit, dafür sehr regelmäßig. Und es ging bei weitem nicht nur oder zuerst um Sünden. Nun aber verschmelzen die beiden Dinge: Man erteilt die sakramentale Lossprechung von den Sünden viel öfter als nur einmal im Leben. Dafür reduziert man den Aufwand und vollzieht das Bußsakrament unter vier Augen. Damit verrät man einen der wichtigsten Grundsätze des Gerichtswesens: Audiatur et altera pars – auch der andere Teil soll gehört werden. Obwohl das Bußsakrament von der Kirche bis heute als Gerichtssituation dargestellt wird, in der der Priester die Richterrolle einnimmt, auch in den Vorschriften des Kirchenrechts, missachtet man einen über 2000 Jahre alten Mindeststandard guten Richtens.

Diese drastische Veränderung hat zahlreiche Kollateralschäden. Einer davon ist, dass die Opfer an dem Geschehen nicht mehr beteiligt sind. Der Beichtpriester ist voll auf die Umkehr und Reue des Sünders oder der Sünderin fokussiert. Und auch wenn in der Theorie die Wiedergutmachung ein wichtiges Element der Beichte bleibt, geht die Beichtpraxis seit langem einen anderen Weg. Nach dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ verschwanden die Opfer zunehmend mehr aus dem Blick des Beichtpriesters. Dass das in vielen Fällen noch heute so ist, zeigen die Protokolle von rund einhundert fingierten Beichten, die der italienische Journalist Giordano Bruno Guerri 1993 veröffentlicht hat. Auch im Falle schwerer Delikte wie Steuerhinterziehung in großem Stil forderten die italienischen Beichtpriester nie, dass man seine Steuerschuld nachzahle oder sich selbst anzeige. Die Frage nach den Opfern der gebeichteten Taten kommt einfach nicht vor.

Doch damit nicht genug. Die Opfer schwerer Vergehen sind der Kirche auch außerhalb der Beichte aus dem Blick geraten. Denn die Beichte war über viele Jahrhunderte der Goldstandard der Pastoral. Man bemühte sich also hingebungsvoll um die SünderInnen, damit sie nicht in der Hölle landeten, aber die Opfer und ihre irdischen Qualen waren außer Sichtweite. In dem Kinofilm „Dead Man Walking” von Tim Robbins 1996, der auf einer realen Begebenheit beruht, muss das die Hauptperson, die Ordensschwester Helen, schmerzlich lernen. Sie kümmert sich als Gefängnisseelsorgerin in den USA in beeindruckender Weise um zum Tode verurteilte Straftäter und versucht sie zum Eingeständnis ihrer Schuld zu bringen. Aber weder sie noch irgendjemand sonst kümmert sich um die Angehörigen der Opfer, und das machen diese ihr und der Kirche insgesamt massiv zum Vorwurf.

Für mich war der Kinofilm damals ein Aha-Erlebnis. Zwar hatte ich von Beginn meines seelsorglichen Wirkens an versucht, Opfer schweren Unrechts zu begleiten und zu unterstützen, wenn ich von ihnen ins Vertrauen gezogen wurde. Aber nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass hier eine gravierende kirchliche Schieflage vorhanden war. Durch den Kinofilm begann ich sie wahrzunehmen und im Kollegenkreis zu thematisieren – weit über das Thema des sexuellen Missbrauchs hinaus. Oft geht es ja um ganz andere Unrechtserfahrungen. Da sind wir als Kirche einfach schlecht aufgestellt. 1500 Jahre haben wir uns ausschließlich um die TäterInnen und ihr Seelenheil bemüht. Das irdische Wohl der Opfer hingegen rührte uns wenig. Wir sahen auf einem Auge hervorragend, auf dem anderen waren wir aber blind.

Und gerade das fällt uns nun auf die Füße. Wir sollten daraus lernen, das Bußsakrament zu reformieren. Wenn es für die Einäugigkeit mitverantwortlich ist, müssen wir es sanieren, um wirklich zweiäugig werden zu können. Es muss in Fällen schwerer Vergehen die Opfer einbeziehen. Es kann nicht sein, dass die SünderInnen ihre Schuld allein mit Gott ausmachen – das würde der nämlich nie wollen. Und die Chance zu einer Reform des Bußsakraments ist so hoch wie lange nicht. Denn diejenigen, die heute noch zum Beichten gehen, kommen fast alle mit sehr schweren Taten. Das natürliche Empfinden der Menschen hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass sie das nicht mehr beichten, was nach offizieller Lehre der Kirche eigentlich nie hätte gebeichtet werden müssen. Aber umso mehr wäre die Reform drängend. Denn derzeit ist die Beichte für schwere Schuld denkbar schlecht ausgerüstet.

Auch für diese Reformen, die Reformen auf dem Gebiet des Glaubens und der Moral sind, werden wir Hilfe von außen brauchen. Alleine kommen wir aus der Sackgasse nicht heraus. „Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selbst gegürtet und gingst, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst.“ (Joh 21,18)

In diesem Sinne grüßt euch und Sie alle,

Michael Rosenberger