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Erinnerung an eine vernachlässigte Leitidee (3) – Von Professor Dr. Michael Rosenberger

Warum nennt das II. Vatikanische Konzil die Kirche das Volk Gottes unterwegs?

n dem Film „Gottes Volk unterwegs“, Ende der 1980er Jahre von der brasilianischen Bischofskonferenz herausgegeben und in der Hauptsache erarbeitet von Leonardo Boff, sieht der Zuschauer in der ersten Szene nur Füße. Nackte Füße unzähliger laufender Menschen. Diese Füße werden zum Leitmotiv des Films und tauchen jeweils an den Schlüsselstellen wieder auf: Füße von Kindern und Füße alter Menschen, dunkelhäutige Füße und fast weiße, Füße mit rissigen, tiefgefurchten Sohlen und solche mit straffer, glatter Haut, Füße, die im Matsch eines regendurchtränkten Feldweges schier versinken, und Füße im trockenen Staub des Sommers, Füße im weichen Gras einer Wiese und solche auf dem harten Asphalt moderner Straßen. Es sind die Füße des Gottesvolkes unterwegs.

Nach und nach werden dem Zuschauer auch die Wege gezeigt, die diese Füße gehen: Wege durch die Favelas oder, getrieben vom Hunger, auf die Müllkippen, Wege durch die endlosen Straßen südamerikanischer Großstädte, Wege des alltäglichen Lebens – zumeist reale Kreuz-Wege. Doch, so zeigt der Film, werden diese Wege zu einer Demonstration gegen das Unrecht und zugleich zur großen Wallfahrt der Hoffnung auf den befreienden Gott. Die Füße tragen nicht nur Menschen, die Menschen haben vielmehr Kreuze, Heiligenfiguren und Transparente mit politischen Parolen in den Händen. Der Weg der nackten Füße – es ist der Pilgerweg der Vielen, die gemeinsam beten und geschlossen handeln. Ihr Glaube hilft ihnen, ihr Leben zu deuten und dadurch ermutigt selber in die Hand zu nehmen.

In einem Film, der programmatisch das eigene Selbstverständnis einer Kirche illustrieren soll, dient die Metapher der Wallfahrt als Raster und Grundmetapher. Wallfahrt ist für sie der Grundvollzug schlechthin ihres kirchlichen Lebens. Einen höheren Stellenwert kann man dem Pilgern kaum zuschreiben. Niemand hat die Konzilsidee vom wandernden Volk Gottes so konsequent in den Mittelpunkt gestellt wie die lateinamerikanische Befreiungstheologie. Angestoßen von der Ausbeutung und Unterdrückung der Armen in Lateinamerika sieht sie die Verheißung Gottes, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien, als Grund zur Hoffnung, aber auch als Auftrag zum Handeln: In Wort und Tat muss sich die Kirche für jene einsetzen, die benachteiligt und entrechtet sind. 

Im Vergleich dazu blieb die Rezeption der Metapher vom wandernden Gottesvolk in den europäischen Kirchen eher blass. Zwar hat der die Hierarchie relativierende Akzent des Begriffs Gottesvolk in der theologischen Debatte weite Verbreitung gefunden, nicht aber die Metapher des Wanderns, die die geschichtliche Seite dieses Kirchenbildes repräsentiert. Dabei gäbe es auch in Europa genug Unfreiheiten, die eine Brücke zur Exodus-Metapher nahe legen würden.

Auch an der kirchlichen Basis in Europa hat sich die Vorstellung vom wandernden Gottesvolk nur zaghaft verbreitet. Zwar gibt es eine Reihe nachkonziliarer Kirchenbauten, die durch ihre Zeltform auf die Pilgerexistenz der Kirche verweisen. Aber wenn man die programmatischen Slogans von Pfarreien betrachtet, die in den vergangenen Jahren zahlreich entwickelt wurden, taucht weit häufiger als der Begriff „Weggemeinschaft“ oder „Weg“ die Metapher „Heimat“ auf. Pfarreien wollen den Menschen Heimat sein in einer kalt gewordenen, heimatlosen Welt. So gut dies aber gemeint ist: Es ist völlig unbiblisch! Heimat haben die Jüngerinnen und Jünger Jesu allein im Himmel (Phil 3,20) – auf der Erde kommt ihnen weder eine Höhle wie den Füchsen noch ein warmes Nest wie den Vögeln zu (Lk 9,58). Was die Kirche tun kann, ist auf die wahre Heimat verweisen, sich zu ihr hin auf den Weg machen – doch ersetzen kann sie die himmlische Heimat nicht. 

So paradox es ist: Obwohl viele Gemeinden von Rom Änderungen erwarten und geradezu ungeduldig fordern, schrecken sie vor eigenen Veränderungen zurück und wollen im eigenen Nest alles so lassen, wie es ist. Prozess und Entwicklung sind für die wenigsten Pfarreien ein ernsthaftes Thema. Will das müde gewordene Gottesvolk wirklich in der Wüste stehen bleiben? Oder fehlt ihm schon die Kraft zum Gehen?