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Erinnerung an eine vernachlässigte Leitidee (2) – Von Professor Dr. Michael Rosenberger

Warum nennt das II. Vatikanische Konzil die Kirche das Volk Gottes unterwegs?

Im Mittelalter vergessen Kirche und Theologie das Motiv vom wandernden Gottesvolk zunehmend. Es dauert bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, bis diese „ekklesiologische Basismetapher“ (Christian Frevel) wiedergewonnen wird – als das dominierende Bild von Kirche. So gibt es eine Reihe von Stellen, an denen das Konzil ganz beiläufig und wie selbstverständlich von der pilgernden Kirche spricht. Darüber hinaus werden auch konkrete Inhalte mit dem Pilgerstatus der Kirche verbunden:

- Die Kirche ist „auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zur dauernden Reform gerufen“ (Ökumenismusdekret „Unitatis Redintegratio“ Nr. 6). Pilger sein heißt sich wandeln.

- Die Kirche schaut „auf ihrer irdischen Pilgerschaft“ Gott im Spiegel von Schrift und Tradition (Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ Nr. 7). Pilger sein heißt begrenzte Erkenntnis besitzen.

- „Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch“ (Missionsdekret „Ad Gentes“ Nr. 2). Pilgern heißt mit Menschen anderer Kultur und Religion in Dialog zu treten.

- Auf ihrer Pilgerschaft sollen die Christen das Evangelium verkünden, indem sie Freuden und Hoffnungen, Trauer und Angst der Menschen teilen (Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ Nr. 1). Pilger sein heißt sich in die Welt hineingeben, sich inkarnieren, solidarisch mit allen Menschen sein und den Weg mit den Menschen gemeinsam gehen (Gaudium et Spes 40). Wohlgemerkt: Im Sinne des Konzils ist die Metapher vom wandernden Volk Gottes „kein beiläufiger, sondern der zentrale Begriff der Kirche” (Elmar Klinger). Ihre radikale Aufwertung stellt fast schon eine „Revolution“ dar: „Die Rückkehr des Volkes Gottes in das Zentrum der Ekklesiologie ist ein epochaler Vorgang“ (Elmar Klinger). Denn mit ihr verbinden sich entscheidende Veränderungen des Kirchenbildes (nach Medard Kehl):

1) Es bietet sich die Möglichkeit der Beschreibung differenzierter Zugehörigkeit zur Kirche. Während die Rede von der Kirche als Leib Christi nur die Zuordnung als Glied oder Nichtglied dieses Leibes zulässt, kann man zu einem Volk als Mitglied gehören, als vorübergehender oder dauerhafter Gast, als Nachbar, als Mitglied eines „Brudervolks“ usw.

2) Wenn Kirche primär Volk Gottes ist, dann sind ihre Mitglieder zunächst einmal alle gleich. Das Volk ist der Hierarchie vor- und übergeordnet, nicht umgekehrt (Elmar Klinger). Gott allein ist der Souverän des Volkes, und ein kirchliches Amt ist um des Volkes willen da, nicht das Volk für die Amtsträger.

3) Während der Begriff „Leib Christi“ die Nichtchristinnen und Nichtchristen ausschließt, vermag der Begriff „Gottesvolk“ alle an den einen Gott Glaubenden zu umfassen.

4) Die ersten drei Charakteristika beziehen sich auf den Begriff Gottesvolk. Erst das vierte Merkmal bezieht sich auf die Komponente des Unterwegsseins: Wie das Volk Israel in der Wüste ist die Kirche leidend, versucht, sündig (!), reformbedürftig und in ihrer konkreten Gestalt vorläufig. – Während das seit dem 18. Jahrhundert vorherrschende Bild von der Kirche als der vollkommenen Gesellschaft statisch und weltenthoben erscheint, sieht das Zweite Vatikanische Konzil die Kirche wesentlich an die irdische Wirklichkeit gebunden, als „Volk Gottes in der Welt der Menschen“ (Charles Moeller).

5) Die Kirche wird folglich als „historische Aufgabe“ verstanden (Elmar Klinger), sie muss stets weiter entwickelt werden, um auf die geschichtlichen Gegebenheiten (die „Zeichen der Zeit“) angemessen zu reagieren. Die gesamte Pastoralkonstitution ist ein Programm solcher Deutung der Gegenwart im Licht des Evangeliums. So wie der mitgehende Gott Israels Mose mit den Worten beruft: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen... Ich bin herabgestiegen, um sie zu befreien“ (Ex 3,7f), so versteht sich die Kirche herausgefordert, der Befreiung und Emanzipation der Menschen zu dienen und ihre Fähigkeit zu eigenständiger und würdiger Lebensgestaltung zu fördern.