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Erinnerung an eine vernachlässigte Leitidee (1) – Von Professor Dr. Michael Rosenberger

Warum nennt das II. Vatikanische Konzil die Kirche das Volk Gottes unterwegs?

Der Glaube ist ein menschlicher Grundvollzug, der nur gemeinsam gelebt werden kann: Ein Glaubender ist kein Glaubender – diese von Aurelius Augustinus formelhaft auf den Punkt gebrachte Einsicht würden vermutlich alle Religionen der Erde unterschreiben. Religion vollzieht sich in Gemeinschaft und bildet Gemeinschaft. Aber versteht sie sich zugleich als Gemeinschaft unterwegs, in Bewegung, im Wandel? Ist Religion notwendig (!) eine pilgernde Gemeinschaft? Für das alttestamentliche Israel gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: Gottes Volk ist ein Volk unterwegs.

Historisch dürften vor allem zwei Faktoren besonderes Gewicht für die Ausprägung dieser Idee gehabt haben: Zum einen hat der Jahwe-Glaube seinen Ursprung in den Überzeugungen nomadischer Viehhirten. Die Religion Israels ist, bei aller späteren Assimilation an Bräuche und Gewohnheiten der sesshaften Ackerbauern Kanaans, in ihrem Kern nomadisch imprägniert. Zum anderen gewinnt das Motiv des in die Freiheit ziehenden Volkes während des babylonischen Exils eine neue, unübertreffbare Relevanz. In dieser Epoche, der wir einen Großteil der biblischen Schriften verdanken, erkennt sich das in Babel gefangene Volk in jenen Vorfahren wieder, die als Sklavinnen und Sklaven in Ägypten weilten.

Auf Grund dieser beiden historischen Gegebenheiten wird der Exodus für Israel die konstituierende und Identität stiftende Erfahrung. Das Volk Gottes zieht weg aus der Sklaverei und Unfreiheit, es ist unterwegs in das von Gott verheißene Land. Jahwe, der Gott Israels, offenbart sich auf dem Weg, er ist ein – in der Feuer- beziehungsweise Wolkensäule – mitgehender Gott. Diese Grundeinsicht manifestiert sich vor allem im Verständnis des wichtigsten Ortes und des wichtigsten Tages für Israel. Der wichtigste Ort, der Jerusalemer Tempel, Zeichen der Gegenwart Gottes mitten in seinem Volk, wird wie ein Zelt betrachtet (1 Kön 7). Es ist für Israel weder selbstverständlich noch notwendig, dass dieser Ort ein fester ist. Vielmehr wird immer wieder daran erinnert, dass das steinerne Gebäude in all seiner Pracht „nur” die Nachfolge des eigentlichen Offenbarungsortes, nämlich des beim Exodus mitgeführten Heiligen Zeltes verkörpert. Auch nach dem Bau des steinernen Tempels durch Salomo bleibt Gott auf dem Weg! Der wichtigste Tag im Jahreslauf ist für Israel das Paschafest. Von ihm heißt es: „So sollt ihr es essen: eure Hüften gegürtet, Schuhe an den Füßen, den Stab in der Hand. Esst es hastig. Es ist die Paschafeier für den Herrn.“ (Ex 12,11) Die Feier selbst soll also das Unterwegssein spüren lassen, den Aufbruch aus der Gefangenschaft erlebbar machen. 

Das Volk Gottes ist auf dem Weg. Es zieht aus seinen Unfreiheiten aus, kämpft sich den langen Weg durch die Wüste, wird in Versuchung geführt wie in Massa und Meriba (Ex 17,1-7), erliegt der Versuchung, begehrt gegen seinen Gott auf, wünscht sich zurück an die Fleischtöpfe Ägyptens (Ex 16,3) und wird doch von seinem langmütigen Gott immer wieder begnadigt. So kann es schließlich ins gelobte Land einziehen.

Jesus steht ganz in der Tradition seiner Mutterreligion, wenn er für seine Wanderungen um sich eine Gemeinschaft von Jüngern und Jüngerinnen sammelt, die mit ihm unterwegs sind. „Berufung“ im Sinne des Neuen Testaments meint den Ruf in diese Weggemeinschaft, „Nachfolge“ bedeutet sehr wörtlich das Hinterhergehen hinter Jesus. So gesehen ist es eine gewichtige Kursänderung der jungen Kirche, diese Lebensform der wandernden Gemeinschaft an eine kleine Gruppe von „Spezialisten“ zu delegieren: die (Wander-) Missionare. Von nun an gibt es zwei Grundformen christlichen Lebens: Das Leben in ortsfesten Gemeinden, die ihre Güter miteinander teilen, und das Leben als wandernde Apostel, die von Gemeinde zu Gemeinde ziehen, dort aufgenommen und beherbergt werden und überall das Wort Gottes verkünden. Zweifellos war diese Kurskorrektur nötig. Zudem konnte sie sich darauf berufen, dass auch Jesus Menschen „folgten“, die nicht mit auf Wanderschaft gingen, sondern ihn materiell unterstützten und beherbergten und auf diese Weise Gemeinschaft mit ihm hatten. Gleichwohl: Mit der Delegation der Wanderexistenz an Spezialisten lief die Kirche Gefahr, sich nicht mehr als ganze als pilgernd zu verstehen.