Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

Pilgern durch die Coronakrise - 18. Mai 2020

Liebe Pilgernde auf dem Weg zu neuen Ufern,

bei den Demonstrationen der letzten Wochen machen sich vor allem jene Luft, die die Restriktionen nicht ertragen wollen, weil sie sie unverhältnismäßig, übertrieben und zu hart empfinden. Es mag davon manche Kritik richtig sein – wenn auch die Aggressivität und die Nähe zu extremistischen Personen enorm sind. Umso mehr hat mich am Wochenende ein Artikel in der neuesten Ausgabe der ZEIT fasziniert, den ich euch/ Ihnen als Scan anhänge. Seit drei Jahren fragt nämlich ZEIT Online die LeserInnen, wie es ihnen gerade geht. Und nie war die Stimmung so gut wie in den letzten beiden Monaten. Die rückmeldenden Menschen erläutern auch, warum das so ist: Manche haben endlich Zeit, sich mit der Frage nach dem Sinn ihres Lebens auseinanderzusetzen. Familienväter bekommen endlich etwas vom Alltag ihrer Kinder mit. Ein Drogenabhängiger kommt los von seiner Sucht und so weiter. – Der Artikel offenbart: Wir reden viel von den durch die Krise Benachteiligten. Das ist auch gut so, denn sie bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Wir haben aber vor der Krise wenig von denen geredet, die durch den Normalbetrieb einer Hochleistungsgesellschaft benachteiligt sind und die die Coronazeit als Befreiung erleben. Das Gebot der Fairness wäre, sie nach der Krise besser im Blick zu behalten.

Schon bei der Betrachtung der „Cyprianischen Pest“ von 249 bis 268 n. Chr. hatten wir gesehen: Klimakrise und Pandemie treffen nicht zum ersten Mal zeitlich aufeinander. Und so ist es auch gegen Mitte des 6. Jahrhunderts. Die spätantike kleine Eiszeit naht. 536 n.Chr. ist als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichte eingegangen. Ein ganzes Jahr lang scheint die Sonne fast nicht, ist ständig verdüstert – das ist in den zeitgenössischen Quellen bis nach China bezeugt. Aber erst 1983 entdeckt die NASA durch Analyse von Eisbohrkernen die immense Vulkanaktivität dieses Jahres. Überhaupt gab es in den 530er und 540er Jahren einzigartig viele und heftige Vulkanausbrüche, die beiden größten 536 auf der Nordhalbkugel und 539 oder 540 in den Tropen – wobei wir noch nicht wissen, um welche Vulkane es sich handelte. Klar ist aber: Das Jahr 536 war auf der Nordhalbkugel das kälteste der letzten 2000 Jahre. Die Sommertemperaturen fielen im Durchschnitt um 2,5 Grad – eine unermessliche Katastrophe. Und 536 bis 545 n.Chr. war das kälteste Jahrzehnt der letzten 2000 Jahre auf der gesamten Erde. Es kam zu einem Zusammentreffen starker Vulkanaktivitäten und einer geringeren Sonnenstrahlung. Doch während sich die Vulkanaktivitäten nach einigen Jahrzehnten beruhigen, bleibt die geringere Sonnenaktivität über zwei Jahrhunderte und erreicht ihren Tiefststand erst gegen 680 n.Chr. Ein kaltes und finsteres Zeitalter.

Yersinia pestis, das Pestbakterium, hat drei historische Pandemien verursacht: 541 im Römischen Reich, 1346 in ganz Europa und 1894 ausgehend von Yunnan/ China weltweit. Dabei ist der Mensch aus Sicht des Bakteriums nur ein notdürftiger Zwischenwirt, denn er stirbt viel zu schnell und seine Todesrate geht gegen 100 Prozent. Yersinia pestis kommt aus Zentralasien und lebt dort zunächst etwa 3000 Jahre auf Nagetieren. Sein hauptsächlicher Wirt, die damals nur in Südostasien lebende Hausratte, gelangt mit Handelsschiffen der Römer im 2. Jh. v.Chr. nach Europa, wo sie sich bis zum 6. Jh. n.Chr. im gesamten Reich einschließlich England ausgebreitet hat. Die Übertragung des Bakteriums von der Ratte auf den Menschen erfolgt über Flöhe. Es gelangt aber erst vier Jahrhunderte nach den ersten Ratten von Südostasien in den Mittelmeerraum. Zwar blüht der römische Handel im Roten Meer und im Indischen Ozean nach einer Flaute im 3. Jh. (wir erinnern uns: die Cyprianische Pest!) in der Spätantike wieder auf: Seide aus China, Gewürze aus Indien, Elfenbein, Sandelholz, Gold und SklavInnen werden wieder in großen Mengen importiert. Aber erst die ökologischen Rahmenbedingungen des 6. Jh. sind für die Reise des Bakteriums gen Westen geeignet: Das seit den 530er Jahren feuchtkalte Klima. Mehr Regen bedeutet mehr Pflanzenwachstum. Mehr Pflanzenwachstum bedeutet mehr Nagetiere. Mehr Nagetiere bedeuten mehr Pestbakterien, die zugleich durch das feuchtkalte Klima mehr Verbreitungsmöglichkeiten haben, denn die Route über den Indischen Ozean war ihnen zuvor zu heiß und zu trocken. Erst die Verbindung von Klimaveränderungen und globalem Handel ermöglicht also die Pandemie.

Im Sommer 541 erreicht Yersinia pestis die Stadt  Pelusium, eine altägyptische Stadt im äußersten Osten des Nildeltas und einer der zentralen Umschlagplätze für Waren, die vom Roten Meer ins Mittelmeer transportiert wurden. Von dort breitet sich das Bakterium auf zwei Wegen aus. Auf dem schnelleren Seeweg gelangt es noch im selben Jahr nach Alexandria und von dort weiter nach Westen. Ende Februar 542 ist es bereits in Konstantinopel und 543 in Rom, Karthago und Arles (von wo wir einen Bericht des Gregor von Tours haben). 544 erreicht Yersinia pestis Spanien und England, aber auch Bayern. Auf den Dorffriedhöfen von Aschheim und Altenerding bei München hat man in Knochenfunden aus Gräbern des 6. Jh. den genetischen Code des Bakteriums einwandfrei identifizieren können. – Auf dem langsameren Landweg gelangt Yersinia pestis von Pelusium nach Osten und verwüstet Palästina, Syrien, Mesopotamien und schließlich Persien.

Furchtbar sind die zeitgenössischen Beschreibungen: Mitunter kamen Frachtschiffe voller Toter am Ziel an – wahrhaftige „Geisterschiffe“. Prokop von Caesarea, ein Jurist am kaiserlichen Hof in Konstantinopel, schreibt: „Die Pest erfasste die ganze Erde“ – Stadt für Stadt, Gebiet für Gebiet, bis sie weiterzog. Sie befiel und tötete Reiche und Arme, vor ihr waren alle gleich. Etwa 50 bis 60 Prozent aller Menschen starben, in Konstantinopel allein 300.000. Seit wir selbst eine Pandemie erleben, können wir uns die Folgen gut ausmalen: Da die Pest (anders als die beiden vorangehenden Pandemien, die nicht die Ratten als Überträger hatten) auch auf dem Land wütete, konnte die Ernte nicht eingebracht werden (Erntehelfer aus ärmeren Ländern konnte man noch nicht einfliegen…). Die Märkte brachen zusammen, Lebensmittelknappheit setzt ein. Kaiser Justinian reagierte mangels einer EZB oder eines IWF mit drastischen Steuererhöhungen und musste dennoch sämtlich großen Bauprojekte, die er zuvor betrieben hatte (man denke nur an die Hagia Sophia, die zum Glück schon vollendet war), komplett einstellen. Die Wirtschaft im (ost-) römischen Reich erholte sich von diesem Schlag nicht mehr.

Die Pest ist beharrlicher als die Pocken oder Ebola. Das Bakterium kann sich auf Ratten zurückziehen und nach Jahrzehnten irgendwann wieder auf den Menschen überspringen, der ja wie gesagt nicht sein bevorzugter Wirt ist. Das tut das Pestbakterium bis 749 n.Chr. in insgesamt 38 lokalen oder überregionalen Wellen. Dass es am Ende schließlich untergeht, liegt am Niedergang des oströmischen Reichs. Irgendwann fehlen einfach die Handelsschiffe und die Ochsenkarren, die das Bakterium von einem Ort zum nächsten transportieren könnten. Die Katze beißt sich gleichsam in den Schwanz. Die Pest zerstört Wirtschaft und Handel und verliert damit zugleich ihr eigenes Transportmittel. Zumindest bis zum Hochmittelalter – aber das wäre eine andere Geschichte.

Wir sollten also gewarnt sein: Klimaverschlechterungen in Verbindung mit Pandemien können auch heute die globale Wirtschaft zerstören. Noch ist das nicht der Fall. Aber es ist in unserem eigenen Interesse, vorsorgend zu handeln. Selbst wenn das Geld und Mühe kostet.

In diesem Sinne grüßt,

Michael Rosenberger

PS: In den Tagen vor Christi Himmelfahrt gibt es seit der Justinianischen Pest die Tradition der Bittprozessionen über die Felder, um Gottes Segen für die heranwachsenden Lebensmittel zu erbitten. Heuer werden diese Prozessionen nicht in großer Schar organisiert werden können. Ich lade aber ein, sich in der Familie oder mit NachbarInnen auf den Weg zu machen. Leider gibt es im Internet dafür keine guten Materialsammlungen. Im Anhang dieser Mail sende ich daher neben dem bereits erwähnten ZEIT-Artikel selbst zusammengestellte Texte für Bittprozessionen. Ich wünsche einen guten Weg – ultreya!